Ein Schwarz-Weiß-Foto nach dem anderen legt die alte Dame auf den Tisch. Hannah Arnu schaut sich die Bilder genau an und hört der Französin zu, die ihre Familiengeschichte erzählt. Die 18 Jahre alte Münchnerin Arnu arbeitet als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen in der Pariser Schoah-Gedenkstätte. Regelmäßig trifft sie dort mit Holocaust-Überlebenden oder deren Nachfahren zusammen. "Ich bin immer wieder überrascht, wie offen Menschen mir hier begegnen", sagt die junge Deutsche. "Manche sagen mir, dass sie es mutig und lobenswert finden, dass ich hier bin."
Versöhnung bleibt eine Daueraufgabe
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Frankreich und Deutschland im Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 ihre Erbfeindschaft beendeten und offiziell miteinander Freundschaft schlossen. Die deutsch-französischen Beziehungen sind längst Routine geworden. Doch Versöhnung bleibt eine Daueraufgabe. Heute engagieren sich dafür auch junge Menschen, die die dunklen Kapitel der deutsch-französischen Vergangenheit vor allem aus dem Geschichtsunterricht kennen.
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Hannah Arnu ist eine von 18 Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen, die derzeit ihren Friedensdienst in Frankreich leisten. "Natürlich ist es für unsere Generation nicht immer leicht, einen direkten Bezug zu der Vergangenheit herzustellen", sagt sie nachdenklich. Dann stelle sich eben auch die Frage: Was habt Ihr eigentlich noch damit zu tun? "Aber gerade in der Schoah-Gedenkstätte wird mir bewusst, wie wichtig es ist, sich weiterhin für Versöhnung einzusetzen", sagt sie.
Der Gründungsaufruf für Aktion Sühnezeichen wurde 1958 auf der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands verlesen. Ihr Gründer Lothar Kreyssig war von dem Gedanken angetrieben, die protestantische Kirche habe während des Nationalsozialismus weitgehend versagt. Durch praktische Arbeit sollten Zeichen der Versöhnung in Europa gesetzt werden. In den ersten Jahren halfen die Freiwilligen etwa beim Bau einer Synagoge in Villeurbanne bei Lyon und der Kirche der ökumenischen Taizé-Gemeinschaft. Später kamen soziale Projekte hinzu, seit 1961 auch in Israel.
Alte Menschen wollen ihre Familiengeschichte bewahren
Die 18-jährige Hannah Arnu arbeitet im Wechsel in der Bibliothek und im Archiv der Gedenkstätte, die nur wenige Schritte vom Seine-Ufer entfernt liegt. Jeden Dienstag nimmt sie an einer Art Sprechstunde teil: Nachkommen von Schoah-Opfern können dort Fotos archivieren lassen und ihre Geschichte erzählen. "Es vergeht keine Woche, in der niemand kommt", berichtet Hannah. Häufig sind es alte Menschen, die nicht wollen, dass ihre Familiengeschichte verloren geht; manchmal auch junge Leute, die im Nachlass ihrer Großeltern historische Aufnahmen gefunden haben.
"Es ist oft berührend, den Menschen zuzuhören", sagt Hannah. Sie scannt die Bilder, macht Notizen und hilft bei der Übersetzung von deutschen Texten. Besonders ergriffen war sie vom Briefwechsel eines Mannes, der während der deutschen Besatzung mehrere Jahre in einem Internierungslager war. "Seine Frau bekam ein Kind von ihm, er hat es nie gesehen". Schließlich sei er im Vernichtungslager Bergen-Belsen an Typhus gestorben. "Je mehr Details man kennt, desto schwieriger ist es, Distanz zu halten", sagt Hannah mit leiser Stimme.
Deutschland hatte den Norden Frankreichs bereits wenige Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs besetzt. Im Süden etablierte sich die mit den Nazis zusammenarbeitende Vichy-Regierung unter Philippe Pétain. Bis zur Befreiung von Paris 1944 gingen die deutschen Besatzer teils mit Unterstützung der französischen Behörden gegen Juden und andere Minderheiten vor. Etwa 76.000 Juden wurden aus Frankreich deportiert, unter ihnen rund 11.000 Kinder. Die meisten von ihnen kamen in Auschwitz ums Leben.
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"Ich habe auch Fotos aus einem Lager in der Hand gehabt, auf denen Leichenberge zu sehen waren", sagt Hannah. Aber solche Motive sind eher die Ausnahme. Die meisten Menschen bringen ihre Familienaufnahmen. "Besonders schön sind alte jüdische Hochzeitsfotos", sagt Hannah und lächelt.
Im Pariser Alltag wurde die Abiturientin bislang nicht mit der schwierigen Vergangenheit der beiden Länder konfrontiert: "Ich werde zwar schon als Deutsche erkannt, wenn ich nur 'bonjour' sage, aber ich habe mich als Deutsche hier nie eigenartig oder diskriminiert gefühlt", sagt sie.
Warum entscheiden sich junge Menschen für einen Friedensdienst im Ausland - anstatt etwa mit dem Rucksack durch die Welt zu reisen oder als Au-pair den Anschluss an eine Familie zu suchen? Vielleicht spielte bei Hannah auch ihre eigene Familie eine Rolle. "Mein Urgroßvater war Nazi, ich habe mich viel mit unserer Familiengeschichte beschäftigt", sagt sie.