Norwegen: Hoffentlich kommt der Alptraum zum Abschluss

Foto: dpa/Matthias Balk
Gedenken zum Jahrestag der Anschläge von Oslo und Utøya.
Norwegen: Hoffentlich kommt der Alptraum zum Abschluss
Gastkommentar zur Verurteilung von Anders Behring Breivik
Am Freitagvormittag ist der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Die Osloer Richter erklärten ihn für zurechnungsfähig. Damit muss Breivik die Verantwortung für sein Massaker mit 77 Toten im Osloer Regierungsviertel und auf der Fjordinsel Utøya vom 22. Juli 2011 übernehmen. Der faire Prozess und das Urteil tun der norwegischen Bevölkerung gut, meint unsere Gastkommenatatorin Stephanie Dietrich. Aufgabe der Kirche sei es nun, weiter für Dialog und Menschenrechte, Solidarität und Demokratie zu kämpfen.
24.08.2012
Stephanie Dietrich

In Norwegen atmen heute viele Menschen auf: Endlich ist der lange Gerichtsprozess zu einem Abschluss gekommen und das Gerichtsurteil gefallen. Endlich wird der zweifelsohne Schuldige offiziell für schuldig erklärt und bestraft. Für die vielen Opfer und Angehörigen war der monatelange Strafprozess ein notwendiger, aber beinahe endlos erscheinender Prozess. Unser Rechtssystem wurde zum Garant dafür, dass auch einem Massenmörder, ohne jegliche Zeichen von Einsicht in eigene Schuld, eine faire und demokratische Behandlung widerfährt, die eines modernen und demokratischen Rechtssystems würdig ist.

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Der heutige Gerichtsbeschluss, dass der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik als zurechnungsfähig erklärt wird, beinhaltet auch, dass Breivik zur Höchststrafe von 21 Jahren verurteilt wird, und im Hochsicherheitsgefängnis verwahrt wird. Für die norwegische Bevölkerung ist es wichtig, sicher sein zu dürfen, dass Breivik bestraft wird - und dass man nicht riskieren muss, den Massenmörder schon bald wieder in Freiheit zu treffen. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass unser Strafsystem eigentlich nicht imstande ist, eine gerechte Strafe für die Taten Breiviks zu finden. Keine Gefängnisstrafe, und sei sie auch noch so lang, kann jemals aufwiegen, was geschehen ist. Die Bevölkerung Norwegens hat deshalb vor allem das Bedürfnis zu wissen, dass Breivik im Gefängnis sitzt - und da bleibt. Das Urteil, das heute gefallen ist, trägt deshalb hoffentlich dazu bei, dass der kollektive Alptraum Norwegens zu einem vorläufigen Abschluss kommen kann.

"Zurechnungsfähig" - das hatten sich alle gewünscht

Die Diskussion um Breiviks mentale Gesundheit hat dieses Frühjahr wochenlang die norwegischen Medien dominiert. Sie hat nicht nur deutlich gemacht, dass das medizinische Diagnosesystem keine eindeutigen Antworten über Breiviks Zustand geben kann. Obwohl es für die Menschen in Norwegen gefühlsmäßig einleuchtend ist, dass Breivik auf irgendeine Weise "verrückt" ist (Wie sonst könnte ein Mensch auf solch bestialische Weise Kinder und Jugendliche ermorden?) hatte die medizinische Begutachtung Breiviks zu unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf dessen Zurechnungsfähigkeit geführt. So blieb doch die Fragen offen: Ist es richtig, dass der Mann, falls seine Taten durch Wahnvorstellungen motiviert sind, zwar schuldig ist, aber nicht für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann? Verständlicherweise haben viele der Opfer deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es äußerst wichtig für sie ist, dass Breivik für zurechnungsfähig und deshalb für schuldig erklärt wird und verurteilt werden kann.

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Breivik selbst hatte vor der Urteilsverkündigung deutlich gemacht, dass er nur ein Urteil anerkennen würde, das ihn als zurechnungsfähig anerkennt. In gewisser Weise erfüllt das Urteil, dass heute verkündet wurde, deshalb Breiviks eigenen Wunsch: Die Anerkennung dessen, dass seine Tat nicht von Wahnvorstellungen motiviert war, sondern von einer politischen Überzeugung, deren Anerkennung er verlangt. Uns allen wurde deutlich, dass Demokratie und Sicherheit in Norwegen nicht selbstverständlich sind, sondern Werte, die täglich neu verteidigt werden müssen. Sowohl Rechtsradikalismus als auch radikale antiislamistische Bewegungen, sind eine reelle und bisher in dieser Größenordnung nicht vorstellbare Bedrohung dieser Werte.

Die Kirche muss trösten und für Solidarität kämpfen

Die norwegische Kirche und auch die andern kirchlichen und religiösen Gemeinschaften haben sich im Verlauf des vergangenen Jahres vor allem auf die Begleitung all derer konzentriert, die direkt oder indirekt Opfer der Terrorhandlungen Breiviks geworden sind. Norwegen ist ein geographisch großes, aber bevölkerungsmäßig kleines Land, mit knapp fünf Millionen Einwohnern. Das führt unter anderem dazu, dass fast jeder und jede jemanden kennt, der direkt oder indirekt betroffen ist. Breiviks Tat hat noch deutlicher gemacht, dass Solidarität und Demokratie unabdingbare Werte sind, für die wir in Norwegen auch weiterhin kämpfen werden - jetzt noch viel mehr. Es hat aber auch deutlich gemacht, dass ein grundlegendes Vertrauen in "das Gute im Menschen" niemals zugunsten von Professionalität und eines angemessenen Misstrauens gegenüber allen Formen von Extremismus und Fundamentalismus stehen darf. Die Frage, ob das norwegische Polizei- und Sicherheitssystem von einer gewissen Naivität geprägt war, darf deshalb mit Recht gestellt werden.

Norwegen ist bekannt als ein Land der Demokratie und des Friedens. Die Terrorhandlungen des 22. Juli 2011 haben deutlich gemacht, dass diese Werte nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder neu verteidigt werden müssen. Insbesondere der Dialog zwischen Christentum und Islam muss weiter vertieft werden. Breiviks Ideologie, der Kampf gegen die von ihm so genannte "Islamisierung Europas", hat auch in Norwegen viele Anhänger - auch wenn die meisten seine Terrorhandlungen ablehnen. Neben Trauerarbeit und pastoraler Begleitung aller Betroffenen wird es deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche sein, für Dialog und Menschenrechte, Solidarität und Demokratie zu kämpfen. Der Dialog und die Begegnung mit anderen Religionen muss intensiviert werden, sowohl auf Gemeinde- als auch auf regionaler und nationaler Ebene. Auf diese Weise darf deshalb die Hoffnung gehegt werden, dass das heute gefallene Urteil dazu beitragen kann, dass der Fokus nicht mehr auf Breiviks Person und Schuldfähigkeit, sondern auf die vor uns liegenden Aufgaben der demokratischen Bildung unserer Gesellschaft gerichtet werden kann. In diesem Zusammenhang kann die evangelische Kirche hoffentlich eine entscheidende Rolle spielen.