Das Thema Toleranz, mit dem die EKD in den kommenden zwölf Monaten das Reformationsjubiläum vorbereitet, ist gut gewählt. Es ist griffig und geht jeden an – jeden Tag. Jeden Tag, zu Hause oder unterwegs, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit, beruflich und privat, ist unsere Toleranz gefordert: nicht gleich im Sinne von Leidensfähigkeit, so die Wortbedeutung, aber im Sinne von Dulden, Mittragen, Offensein. Niemand ist für sich allein, deshalb braucht es die Toleranz im täglichen Miteinander. Anders funktioniert eine Gesellschaft, Gemeinschaft, Partnerschaft nicht.
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Doch die Frage nach der Toleranz zieht automatisch eine zweite nach sich: Wo ist die Grenze? Wie weit muss ich mich öffnen, was muss ich mittragen? Bedeutet Toleranz, eigene Werte, Vorstellungen und Grundsätze ins Unendliche zu dehnen? Ganz konkret: Wenn mir in der S-Bahn jemand auf den Fuß tritt, muss ich ihm noch den zweiten hinhalten? Jesus würde sagen: ja. Doch ist in der betreffenden Stelle im Neuen Testament (Matthäus 5,39) von einem abstrakten Prinzip die Rede oder von einer konkreten Handlungsweise? Es heißt dort klar: Leistet denen, die euch Böses tun, keinen Widerstand.
Hier stößt man als Mensch an seine Grenzen. Niemand, auch kein Christ, hält freiwillig die zweite Wange hin. Niemand ist so leidensfähig, so tolerant. Die Toleranz stößt schnell an ihre Grenzen. Und das ist auch gut so. Allein mit den Maximen der Bergpredigt ließe sich eine moderne Gesellschaft nicht gestalten. Sie kann nicht das Grundgesetz ersetzen. Denn zum einen ist das, was Jesus uns vorgibt, von einer merkwürdigen Mischung aus Toleranz und Intoleranz geprägt. Und zum anderen gilt, um es mit einem Kalauer zu sagen: Wer nach allen Seiten offen ist, ist nicht ganz dicht.
Nicht zu allem eine Meinung haben
Toleranz ist kein Wert für sich, man muss sie stets übersetzen und durchdeklinieren. Das ist zurzeit vor allem im Miteinander von Christen und Muslimen notwendig. Kopftuch, Schwimmunterricht, Zwangsehe, Beschneidung: Viele Fragen liegen auf dem Tisch, und zu vielen gibt es keine klaren Antworten. Andererseits ist es nicht die Aufgabe der evangelischen Kirche, zu allem eine Meinung zu haben: Das hat Reformationsbotschafterin Margot Käßmann in ihrer Predigt zum Auftakt des Toleranzjahres verdeutlicht. Manchmal müsse man auch die verschiedenen Auffassungen ertragen.
Fünf Jahre vor dem Reformationsjubiläum wird die Kirche mit dem Schwerpunkt Toleranz nicht nur brisante aktuelle Themen ansprechen, sondern auch an ihre eigene Geschichte erinnert werden. Für Luther war Toleranz kein Thema. Er war genauso unduldsam wie seine Gegner. Aber gerade die Nachtseiten der Reformation zeigen, wie sehr die Kirche in den vergangenen 500 Jahren dazulernte und sich weiterentwickelt hat. Und dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Die Suche nach dem richtigen Maß an Toleranz bleibt eine tägliche Aufgabe.