Australien sagt "Sorry" für Zwangsadoptionen

Foto: Getty Images/Hulton Archive
In den 60er Jahren durften minderjährige und unverheiratete Mütter in Australien ihre Babies oft nicht behalten.
Australien sagt "Sorry" für Zwangsadoptionen
Der 25. Oktober war im Leben der Jo Fraser ein ganz besonderer Tag. Ted Baillieu, Premierminister des australischen Bundesstaats Victoria, entschuldigte sich in Melbourne im Namen seiner Regierung "und aller Regierungen vor uns" für die Zwangsadoptionen, die in Victoria jahrzehntelang gang und gäbe waren.

"Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich diesen Tag noch erlebe, sagt Jo Fraser mit bewegter Stimme. Die heute 58 Jahre alte Fraser ist eine der vielen zehntausend Australierinnen, denen zwischen 1950 und Anfang der 1970er Jahre ihr neugeborenes Kind gleich nach der Geburt weggenommen und zur Adoption freigegeben wurde. "Ich durfte mein Kind nicht einmal sehen", erinnert sich Fraser. "Keine von uns durfte das. Aber es war erlaubt, dem Kind einen Namen zu geben. Ist das nicht zynisch? Ich habe meinen Sohn Michael genannt. Das ist mein Lieblingsname."

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Betroffen von den Zwangsadoptionen waren unverheiratete und minderjährige Mütter. Etwa 150.000 Frauen waren zwischen 1950 und 1970 in ganz Australien über staatliche und kirchliche Einrichtungen verteilt, die Kinder gleich nach der Geburt weggenommen und zur Adoption freigegeben haben. Die Zwangsadoptionen waren seinerzeit nicht etwa ein schmutziges Geheimnis, sondern eine bekannte und gesellschaftlich akzeptierte Praxis. Jahrzehntelang kämpften betroffene Frauen wie Fraser, die in ihrer Heimatstadt Melbourne Sprecherin der Betroffenenorganisation Reliquishing Mothers ist, für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Arbeiten bis zum Einsetzen der Wehen

Das volle Ausmaß der systematischen Zwangsadoptionen war erst durch den in diesem Jahr veröffentlichten Bericht einer Untersuchungskommission des Senats, der zweiten Kammer des nationalen Parlaments, öffentlich geworden. Eine der Empfehlungen der Kommission lautete: Parlamente; Behörden und Kirchen sollen sich für die Zwangsadoptionen entschuldigen.

Seitdem ist ein "Sorry"-Tsunami über Australien hereingebrochen. Nur eine eine Woche vor der Regierung von Victoria hatten sich die anglikanische Diözese Melbourne und der Bundesstaat Tasmanien entschuldigt. Wenig vorher sprachen in Sydney Regierung und Parlament von New South Wales (NSW) ihre Entschuldigung aus. Die Katholische Kirche hat bereits Sorry gesagt, der Primas der Anglikanischen Kirche ebenso, wie auch der Verband der Hebammen. Weitere Landesparlamente haben ihre Sorry-Sitzungen angekündigt. Das Bundesparlament folgt im nächsten Jahr.

Lily Arthur ist nicht wohl bei den vielen Sorrys. Auch der in Sydney lebenden Frau war ihr Sohn gleich nach der Geburt weggenommen worden. "Ich war 17, als ich von der Polizei festgenommen und in ein Heim für Mädchen eingeliefert wurde. Sie sperrten mich ein und zwangen mich bis zum einsetzen der Wehen zur Arbeit. Meinen Sohn nahmen sie mir gleich nach der Geburt weg und setzten mich solange unter Druck, bis ich mein Kind zur Adoption freigab", erinnert sich Arthur, Vorsitzende der Betroffenenorganisation Origin.

Kein Vertrauen mehr in Religion

Die bisherigen Sorry-Aktionen wurden begleitet von Zusagen finanzieller Mittel zur psychologischen Hilfe zur Traumabewältigung der betroffenen Frauen, aber auch der Väter und der zwangsadoptierten Kinder. Trotzdem findet Arthur alle, bis auf eine, gutgemeint aber bedeutungslos.

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"Wir sind alle sehr glücklich über den Senatsreport, aber nicht glücklich über die Entschuldigungswelle", sagt die 62-jährige im Namen von Origin wenige Tage vor dem Sorry von Victoria. "Wir lehnen alle Entschuldigungen ab, mit Ausnahme der von Tasmanien, in der diese Praxis (der Zwangsadoptionen) als illegal erklärt wurde." Auch den Entschuldigungen der Kirchen steht Arthur mehr als skeptisch gegenüber. "Mein Kind wurde mir von einer katholischen Einrichtung genommen. Seitdem habe ich keinen spirituellen Glauben mehr und kein Vertrauen in Kirchen jedweder Konfession."

Sorry ist in Australien ein strapaziertes Wort geworden. Eine Reihe von Enthüllungen haben in den letzten zehn Jahren Australiens Ruf als offene, tolerante Gesellschaft und sein Selbstbild als "Zauberland Oz", in dem alle glücklich und frei sind, ramponiert. Zuerst erschütterte 1997 der Senatsbericht über die "Stolen Generationen" die Öffentlichkeit. Damit werden jene Aborigines bezeichnet, die etwa von Beginn des 20. Jahrhunderts an bis 1969, als die Aborigines das australische Staatsbürgerschaft erhielten, als Kinder ihren Eltern weggenommen worden waren, um sie in Missionsschulen aller Konfessionen oder staatlichen Einrichtungen zu "weißen Werten" zu erziehen. Australiens konservativer Premierminister John Howard verweigerte standhaft mit dem Hinweis auf die Gnade der späten Geburt das S-Wort gegenüber den australischen Ureinwohnern. Erst sein sozialdemokratischer Nachfolger Kevin Rudd wagte im Februar 2008 den historischen Schritt der Entschuldigung für das Unrecht der Vergangenheit.

"Wir sind ein so großes Land, aber Flüchtlinge weisen wir zurück"

Dann folgten die "Forgotten Australians". Wieder war es Rudd, der sich entschuldigte, dieses Mal vor jenen zehntausenden Australiern, die als Heimkinder systematisch körperlich, seelisch und sexuell missbraucht worden waren. Wieder waren Kirchen und Behörden Hand in Hand Täter. "Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ihr euren Familien weggenommen und in Einrichtungen eingewiesen worden seid, wo man euch oft misshandelt hat", sagte im November 2009 Rudd in einer sehr emotionalen Rede vor dem Parlament in Canberra.

Trotz der Sorrys hat sich nicht viel an den gesellschaftlichen Zuständen down under geändert hat, durch die diese Taten möglich geworden sind. "Wir können uns nicht dauernd für Fehler der Vergangenheit entschuldigen, wenn wir sie in der Gegenwart weiter begehen", sagt Arthur. "Wir stigmatisieren immer noch alleinstehende Mütter, wir sind immer noch rassistisch." Jo Fraser zieht eine Parallele zu der gegenwärtigen Asylpolitik. Bootsflüchtlinge – Männer, Frauen, Kinder - aus Afghanistan, dem Irak, aus Sri Lanka werden im Rahmen der sogenannten Pazifischen Lösung in Lagern in den südpazifischen Staaten Nauru und Papua interniert. Zur Abschreckung von Bootsflüchtlingen, wie die Labor-Regierung von Premierministerin Julia Gillard offen zugibt. Fraser ist entsetzt: "Wir sind ein so großes Land, wir haben soviel Platz, wir haben soviel zu bieten, aber die Flüchtlinge weisen wir zurück. Andere Länder nehmen sehr viel mehr Flüchtlinge auf als wir."

Gute Familien, schlimme Familien

Fraser und Arthur sind verheiratet und haben Kinder. Arthur ist Mutter einer Tochter. Ihren weggenommenen Sohn hat sie vor fünfzehn Jahren wiedergefunden. "Die Wiedervereinigung war sehr gut. Er spricht nicht viel über unsere Trennung. Aber ich bin mir sicher, er denkt oft daran und unterstützt mich bei dem, was ich tue."

Fraser hat drei Söhne. Den ältesten hat sie wieder Michael genannt. Den ersten Michael haben seine Adoptiveltern Tim getauft. Fraser hatte sich vor 19 Jahren auf die Suche nach ihrem Kind gemacht. "Ich hatte Glück", sagt sie. "Die Adoptiveltern hatten Tim nie verschwiegen, dass er adoptiert war. Sie haben auch den Kontakt zu ihm nicht verhindert. Das ist gut so. Tim ist in einer guten Familie aufgewachsen. Viele Adoptivkinder kamen in schlimme Familien, in denen sie misshandelt und missbraucht wurden." Ein wenig traurig ist Fraser schon, dass der heute 41 Jahre alte Tim sie nicht zur Sorry-Zeremonie begleitet hat. "Er sagte, er habe kein Problem damit, adoptiert worden zu sein. Das hat mich schon etwas geschmerzt."