Udi Roth ist israelischer Reservesoldat, als er per Anhalter ins Wochenende fährt, wie schon viele Male zuvor. In der Nähe des Gaza-Streifens im Westen Israels wartet er mit einem Freund auf ein Auto. Sie steigen nicht bei jedem ein, denn der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hat misstrauisch gemacht; zu oft hat es in der Vergangenheit Überfälle gegeben. Sie wählen ein Auto, in dem drei ultraorthodoxe Juden sitzen, das denken sie zumindest. Kurz darauf sind Udi und sein Freund tot – erstochen von Mitgliedern der palästinensischen Organisation Hamas, die mit Kipa aussahen wie strenggläubige Juden.
"Es war eine Tragödie für unsere Familie", sagt Juval Roth über den Tod seines Bruders Uri vor 19 Jahren, "die beiden wurden kaltblütig ermordet." Juval Roth ist ein zurückhaltender Mann, mit leiser Stimme erzählt er von der Trauerzeit und wie er den Weg fand zu einem Forum, wo sich Angehörige von Opfern beider Seiten treffen: "Dort habe ich Freundschaft geschlossen mit einen Palästinenser aus Jabed im Norden des Westjordanlandes. Er bat mich, seinen schwerkranken Bruder in ein israelisches Krankenhaus zu bringen. Ich hab ihn nach Haifa gefahren, so oft, bis ihm geholfen war." Und so fing alles an.
Kalkilja, eine 30.000 Einwohner-Stadt im Westjordanland. Im einzigen Krankenhaus der palästinensischen Stadt steht Shadya Ashawahi am Bett ihres Sohnes Karim, das nur durch Stoffbahnen von fünf anderen Kranken getrennt ist. Shadya Ashawahi macht sich große Sorgen. Flüsternd spricht sie davon, dass ihr Sohn blind und taub war, erst spät erkannten palästinensische Ärzte, dass ein Hirntumor die Ursache war. Es wurde operiert, die Operation verlief nicht gut. Hoffnung gab es nur in Israel. Israel, ein Land mit hervorragender medizinischer Versorgung, ein Land, das einen Kilometer Luftlinie entfernt liegt – getrennt durch einen Sperrzaun und Checkpoints sind das Welten.
"Juval und seine Leute haben mich mehr als 70 Mal abgeholt"
"Ich hätte nie das Leben meines Jungen retten können," sagt Shadya und streichelt Karim über den Kopf, "ich kann kein Hebräisch, kenne weder Israel noch einen Menschen dort. Und allein der einfache Weg vom israelischen Checkpoint bis zum Krankenhaus hätte mich 300 Shekel gekostet." 60 Euro für eine Taxifahrt nach Jerusalem, das ist für die junge Lehrerin nicht bezahlbar. Mit ihrem Auto darf sie nicht ins israelische Kernland fahren; eine Frage der Sicherheit, heißt es. Shadya hörte von Juval Roth und seiner Organisation "Weg zur Heilung". Mittlerweile werden dort rund 300 chronisch kranke Kinder aus den palästinensischen Gebieten Gaza-Streifen und Westjordanland betreut. Viele leiden an einer Erbkrankheit, sind nieren- oder krebskrank.
Website von "Road to Recovery"
Juval Roth und seine etwa 200 ehrenamtlichen Helfer fahren die Kinder zur Behandlung nach Israel, in Krankenhäuser nach Jerusalem und Haifa. Sie helfen, wenn israelische Soldaten an den Grenzübergängen nachfragen und kontrollieren. Egal zu welcher Tageszeit, egal, wie lange die Behandlung dauert. Karims Mutter: "In den letzten Monaten haben mich Juval und seine Leute mehr als 70 Mal am Checkpoint abgeholt. Mein Nachbar ruft Juval an, wenn es Karim schlecht geht und ich weiß: Wenn wir zum Checkpoint kommen, steht einer von Juvals Leuten dort."
Noch immer ist Karim nicht gesund: Der Dreijährige hat dunkle Schatten unter den Augen, er lächelt kaum und wird von Husten geschüttelt, unter seiner Kopfhaut zeichnet sich eine Drainage ab, die Hirnwasser ableiten soll. Die Hoffnung der Familie liegt auf Hilfe aus Israel. Das aber war nicht immer so: Karim war bereits krank, als nachts um zwei die Haustür der Familie eingetreten wurde. Israelische Soldaten suchten mit Hunden nach Karims Onkel, als sie gingen, war die Wohnungseinrichtung zerstört. "Ich habe die Israelis gehasst," sagt Karims Mutter, "ich wusste: israelische Soldaten zerstören das Leben unserer Kinder. Aber jetzt weiß ich: Juval und seine Freunde sind wunderbare Israelis."
Seinen Beruf musste Roth in die Abendstunden verlegen
Anfangs fuhr Juval Roth die kranken Kinder alleine, als es immer mehr wurde, bat er seinen jüngeren Bruder um Hilfe, dann seinen Freundeskreis. Und die Arbeit der Helfer sprach sich herum: "Die Familien der kranken Kinder gaben untereinander meine Telefonnummern weiter. Da hab ich gemerkt: Es geht nicht mehr allein." Wenn Juval Roth heute unterwegs ist, dann immer mit zwei Handys: Auf einem ruft jemand aus den palästinensischen Gebieten um Hilfe, gleichzeitig sucht er auf dem anderen nach einem israelischen Begleiter. Er koordiniert alles, er ist Tag und Nacht erreichbar. Seine Familie, sagt er, trägt das mit, auch wenn er seinen Beruf als Clown und Stelzenbauer auf die Abend-stunden legen muss.
"Anfangs dachte ich, das ist doch selbstverständlich, ich helfe doch nur meinem Nächsten. Nach und nach aber habe ich gemerkt, was das für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern bedeutet. Die politischen Führer bauen zwar einen Sperrzaun, durch unsere Arbeit aber schaffen wir es, die Mauer niederzureißen." Die freiwilligen Helfer hätten anfangs gesagt, er solle sie in Ruhe lassen mit der Politik. Ein paar Krankenfahrten später aber hätten sie selbst begonnen, über die politische Lage zu sprechen. "Ihr Blick auf den Nahostkonflikt", sagt Roth, "hat sich vollkommen geändert."
Und das gilt für beide Seiten. Amal aus Jabed hat vier Kinder, alle leiden unter Thalassämia major, einer Erbkrankheit, bei der nicht genug rote Blutkörperchen gebildet werden, die zuständig sind für den Sauerstofftransport im Blut. Rettung kann eine Knochenmarktransplantation bringen. Die Krankheit kennt aber auch tödliche Verläufe: Mohammed, ihr 16-jähriger Sohn, ist daran gestorben, bei ihrer 18-jährigen Tochter Hanna hat die Therapie angeschlagen, jetzt müssen die zwei jüngsten Kinder ebenfalls in Israel behandelt werden. Die Behandlung zieht sich über Monate hin, nötig ist ein passender Knochenmarkspender, bezahlt wird sie von der palästinensischen Autonomiebehörde.
Amal schied als Spenderin aus, auch ihre Mutter und Schwestern, die in palästinensischen Flüchtlingslagern in Jordanien leben, kamen nicht in Frage.
"Wir lieben ihn alle"
Hilfe und eine Knochenmarkspende bekam Hanna schließlich im Jerusalemer Haddasah-Krankenhaus. Monatelang fuhren Juval und seine Freunde das Mädchen zwischen Jerusalem und Jabed im Westjordanland hin und her, zeitweise musste sie zum Auto getragen werden, eine Sauerstoffmaske erleichterte ihr das Atmen. Heute gilt sie als geheilt. Ohne Juval wären ihre Kinder verloren, sagt sie, und auch wenn der Hass ihrer Verwandten in Jordanien auf Israels Besatzungspolitik groß sei: "Seit sie von Juval wissen, schließen sie ihn in ihre Gebete ein. Wir lieben ihn alle." Meist sind es ältere Israelis, die die Krankenfahrten übernehmen. Schwerkranke Kinder warten vor allem im Gaza-Streifen auf Hilfe. Der Küstenabschnitt wird von der Hamas verwaltet, es ist aber eher eine Verwaltung des Mangels. Die Arbeitslosigkeit dort liegt bei rund 50 Prozent, durch die israelische Blockadepolitik fehlt es nicht nur an alltäglichen Dingen sondern auch an angemessener medizinischer Versorgung.
"Für mich sind Juval und die Menschen, die ihm helfen, Heilige, ihre Arbeit ist gesegnet. Ohne sie wäre Mohammed gestorben." Nadschaf Abaduja sitzt im Wohnzimmer seines einstöckigen Hauses in El Jib, es ist aus einfachen Betonplatten gebaut. Mohammed ist das jüngste der 26 Familienmitglieder. Er ist 20 Monate alt, kam als Frühchen auf die Welt, kann nicht laufen, ist blind und nierenkrank – Folgen einer Hirnblutung. "In den palästinensischen Autonomiegebieten ist die medizinische Versorgung sehr schlecht." Für Mohammed verspreche er sich dank Juval Roth Heilung.
Juval Roths Geschichte ist eine Geschichte von Tod und Leben. Natürlich könne ihm niemand seinen ermordeten Bruder zurückbringen, sagt Juval Roth, er empfinde aber keine Rache gegenüber den Mördern. "Es gibt durchaus Israelis, die mich fragen, ob ich noch ganz dicht bin, Palästinensern zu helfen, wo doch Hamas-Mitglieder meinen Bruder ermordet haben. Jemand hat mir in einem Internet-Forum sogar einen ähnlichen Tod gewünscht." Schließlich, so das Argument, gebe es auch in Israel Menschen in Not. Juval Roth lächelt, als er seine Antwort darauf verrät: "Mit jedem palästinensischen Kind, dem geholfen wird, nimmt auch der Hass aufeinander ein wenig ab."