Pro: Gospel im Gottesdienst - ja, warum denn nicht?
Von Hanno Terbuyken
Die Vorstellung, die die meisten Menschen von Gospel haben, kommt aus Sister Act: Füllige schwarze Frauen in wogenden Roben, die als mitreißende Sound-Welle die Gemeinde aus den Sitzen heben. Wenn deutsche Hausfrauen mit roten Seidenschals versuchen, genau das nachzuahmen, geht das gerne mal schief: Deutsche Kirchgänger lassen sich eben nur schwer von den Sitzen reißen.
Das heißt aber nicht, dass Gospel keinen Platz hätte im deutschen Sonntagsgottesdienst. Hinter der energischen, fröhlichen Musik steckt eine Spiritualität, die Fröhlichkeit und Hoffnung mitbringt. Gerade die "Spirituals", die ursprünglich us-amerikanische Form des christlichen Liedes, die unter amerikanischen Sklaven entstand und die das Bild von Gospel hierzulande wesentlich prägen, singen von Befreiung, von Erlösung, mit Fröhlichkeit.
Ein wenig Fröhlichkeit schadet nicht
"Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen", steht im Epheser-Brief (Epheser 5.19). Die Kirchenlieder der Reformatoren haben zwar den Herrn im Herzen, aber mit der Ermunterung ist es oft nicht so weit her. Überschallt von Orgeln, die gebaut wurden, um auch in einer vollen Kirche mit der Gemeinde mithalten zu können, geschrieben seit dem 15. Jahrhundert, geprägt vom damaligen Gottesbild und der Reformation: Der schmissige Lobgesang, das "Praise the Lord!" der Gospelchöre ist da meistens nicht zu hören.
Der Gottesdienst als fröhliche Feier, als Bejahung des Lebens in Christus, verträgt aber ein bisschen Fröhlichkeit. Das geht durch Neue Geistliche Lieder, durch Kirchentagsmusik, aber eben auch durch Gospel. Man darf zwar nicht erwarten, dass die Gemeinde in den Kirchenbänken tanzt, aber Spaß machen die Lieder trotzdem. Die Klassiker, die jeder kennt – "Go Tell It On The Mountain" oder "Swing Low, Sweet Chariot" – kann man mit vielen Gemeinden auch tatsächlich singen. Der Gemeindechor muss dafür nicht aus zwanzig Whoopi Goldbergs bestehen. Auch ohne eine aufgesetzte Performance, ohne erzwungenes Gemeindeklatschen sind die Lieder ein frischer Wind.
Ohrwürmer wirken über den Gottesdienst hinaus
Im Twittergottesdienst in der Gemeinde Frieden und Versöhnung in Frankfurt klatschten die Konfirmanden beim letzten Lied im Rhytmus mit, und der Rest der Gemeinde auch. Warum? Weil der Kantor mit ihnen "ihr" Lied gespielt hat. Jeder Konfirmandenjahrgang sucht sich ein Lied aus – und das ist dann üblicherweise eben kein klassisches deutsches Kirchenlied, sondern etwas mit mehr Schwung. Gospellieder haben diesen Effekt auch. Allerdings müsse sich die Gemeindemusiker darauf einlassen. Wer "Michael, row your boat ashore" oder den Klassiker "Kumbayah" mit der langsamen Orgel erstickt, muss sich nicht wundern, wenn kein Feeling aufkommt.
Spirituals sind die Umsetzung von gefühlter Spiritualität in Musik und Gesang. Nähe zu Gott und Glauben, die Hoffnung auf Erlösung und ein Leben in Würde: Gospel ist mit vielen Inhalten beladen. Das ist keine deutsche protestantische Tradition, und das muss man auch anerkennen. Aber ein Gottesdienst darf auch Spaß machen, und Gospellieder sind dafür einfach besser geeignet als (zum Beispiel) EG 331 (Großer Gott, wir loben dich) oder EG 278 (Wie ein Hirsch lechzt nach frischem Wasser). Die sind auch schön und haben natürlich eine wichtige Rolle im Gottesdienst. Nur muss es denn immer so ernsthaft sein?
Denn Ohrwürmer, die die Gottesdienstbesucher auch nach dem Kirchgang noch vor sich hinsummen, wirken über den Gottesdienst hinaus. Dafür müssen Kantor und Gemeinde sich nur trauen, die Orgel mal stumm zu lassen, zu Klavier oder Gitarre zu greifen und statt des Gesangbuchs vom kopierten Zettel zu singen. Nicht immer und ausschließlich, aber zwischendurch darf es gern ein bisschen mehr Freude sein. Und auch mal ein Ohrwurm.
Hanno Terbuyken ist Portalleiter von evangelisch.de.
Contra: "Gospel in deutschen Kirchen steht für populistische Kosumkultur"
Von Flois Knolle-Hicks
Gospelmusik ist eines der Wahrzeichen amerikanischer Kirchenmusik vieler schwarzer und weißer Kirchengemeinden. Die Popularität der Gospelmusik in den USA hat viel mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA zu tun.
Die Wiege der Gospelmusik waren die "schwarzen" Gemeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kirchenmusiker komponierten die heute als "Black Hymns" bezeichneten Lieder, aus denen heraus sie entstand. Alltagsbeobachtungen und -erfahrungen wurden im Stil von Balladen ins Licht des Evangeliums gesetzt. So entstand etwa jenes "I'll overcome some day", das später in veränderter Form als Pete Seegers Song "We shall overcome " das Lied der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre wurde und als EG 636 ins EKHN-Gesangbuch Eingang fand.
Im frühen 20. Jahrhundert wurden die "Black Hymns", rhythmisch und harmonisch vereinfacht, zu Gospels gewendet, popularisiert. Aus dem Kontext der "schwarzen" Gemeinden war diese Gospelmusik gelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zunehmend kommerzialisiert. Als Massengut kehrten die Gospels in viele "schwarze" und "weiße" Gemeinden seitdem wieder ein und begleiteten die Erosion der konfessionellen Kirchen und den Vormarsch der konfessionslosen und evangelikal-fundamentalistischen Gemeinden in den USA.
Die "schwarzen" Kirchen hatten behielten stets ihre "Black Hymns", die Spirituals (die Choräle der "Alten") und eben ihre eigene Gospelmusik die gleichwertig nebeneinander bestanden. Das Singen in den "schwarzen" Gemeinde ist bis heute essenziell.
Kennengelernt habe ich Gospels in Deutschland über die vielen von Agenturen hier vermarkteten Gospelgruppen - reine Gospelshows, keine Gottesdienste. Ihre Lieder waren die kommerzialisierten Gospels. Die Kirchenmusik in Deutschland war noch kaum davon beeinflusst.
Der Inhalt wird auf einmal nebensächlich
Nach dem Film "Sister Act" kam der großen Gospelschwung in die deutschen Kirchen. Was im Film so ansteckend war, wollten sie selbst ausprobieren. Das hatte nichts mit der "schwarzen Kirche" und der in ihr lebendigen Gospelpraxis zu tun, sondern war und ist ein frommer, allgemein-religiöser Hype.
Ich vermisse darin das "freie Geständnis" und "offene Bekenntnis", das ja unter uns geltende Wirkung entfalten soll und das im Kirchenlied immer textgebunden ist. Der Text tritt bei diesen Gospels nahezu vollkommen in den Hintergrund.
Der religiöse Gefühlslobpreis nimmt in immer gleichen religiösen Formeln einen so breiten Raum ein, dass das, was zum Wesen gemeindlicher Kirchenmusik gehört, nämlich die Verkündigung und geistliche Reflexion als Antwort der Gemeinde auf das Gottes- und Christusgeschehen unter uns, nahezu nicht existent ist. Da wird eben nicht aus der Sehnsucht nach einem würdevollen Leben vor Gott und der Welt geistlich gesungen, sondern Popmusik und Gospel-Kultur verbinden sich zu einem guten Hype-Gefühl.
Popmusik als Glaubensersatz
In Deutschland, so habe ich den Eindruck, wollen die Kirchen und weite Teile der Kirchenmusik mit dieser Gospelmusik mit den populistischen Mitteln der Konsumkultur kirchlich entfremdete Menschen ansprechen. Der Preis des musikalischen und theologischen, geistlichen Qualitätsverlusts scheint mir aber zu hoch.
Mich stört es gar nicht, wenn Gospels als ökumenisches Kirchenmusikgut gesungen werden. Wenn sie aber als Ersatz zu einer differenzierten Auseinandersetzung der Gläubigen, der Gemeinde mit ihrer Welt gesungen werden, halte ich sie wegen ihrer banal-religiösen Form für schlechte Kirchenmusik.
Mich stört es, wenn sich Sänger und auch Zuhörer wie bei einem Popkonzert verhalten, wenn Gemeinde zum Publikum degeneriert, wenn Rhythmus und die über Verstärker potenzierte Lautstärke Inhalt und musikalische Qualität ersetzen. Differenzierte Klänge, Rhythmen und Harmonien weichen einer Konsummusik mit geistlichem Zuckerguss. Die Verpackung gilt, nicht der Inhalt. Und das ist guter Kirchenmusik schon immer abträglich gewesen.
Welche Musik ist "richtig"?
Es gibt keine "richtige" Musik für die deutschen Gottesdienste. Es gibt nur gute oder schlechte Musik, wie Leonard Bernstein einmal sagte. Wir brauchen das bekennende Singen der Gemeinde aus dem Bewusstsein ihres historischen Kontextes heraus und nicht aufgesetzte musikalische Frömmigkeitshülsen.
Natürlich gehört ökumenisches Liedgut der weltweiten einen Kirche in die Gemeinde, aber dies erwächst aus der weltlichen, gesellschaftlichen und auch persönlichen Erfahrung, dem geistlichen Leben an den kirchlichen Orten der Ökumene, in die sich die hiesigen Gemeinden mitsingend einbetten können. So sind auch Gospels und Spirituals nur dann für einen ökumenischen Transfer geeignet, wenn der hiesigen Gemeinde auch ein Verständnis für Text und Zusammenhang vermittelt werden kann.
Ich bin keine Gospelsängerin à la "Sister Act". Ich wuchs mit der Kirchenmusik meiner "schwarzen" Gemeinde inklusive der in ihr lebendigen deutschen Kirchenmusik auf. Ich singe, wenn Text und Musik gut sind. Wir singen in den "schwarzen" Gemeinden von der Erfahrung der Befreiung, von der Hoffnung und dem Glauben, die in uns sind, von der in Gott begründeten menschlichen Würde. Wir singen von der Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung auf den Plantagen und vom Rassismus, diesem noch immer fortbestehenden Trauma, das nicht enden will.
Der richtige Weg führt vom Inhalt zur Musik
Im hiesigen Aufgreifen des Musikguts, das diese Freiheit durch Christus meint, gestaltet sich ökumenische, solidarische Geschwisterlichkeit, die die wichtige Verkündigung der durch Christus geschaffenen Freiheit meint. Dazu muss man aber, und das gilt ja für alle Kirchenmusik aller Kirchen und Kulturen, vom textlichen Inhalt zur musikalischen Form fortschreiten und nicht sich in der Warenästhetik flotter Rhythmen verlieren. Dann gibt es kein "Publikum", sondern nur Gemeinde.
Ich rate den Deutschen: Verbindet eure eigenen Traditionen des Ringens von Christen um Würde und Freiheit, wie es sich in so vielen Kirchenliedern wiederspiegelt, mit den Gospels. Lest beispielsweise Texte von Dietrich Bonhoeffer, meditiert darüber und wenn ihr dann dazu ein Gospel singen wollt und könnt, dann werdet ihr in fast jedem Gospel, auch in den primitivsten und kommerzialisiertesten, jenen Geist finden, der die Felsen zum Schmelzen bringt und die Ketten sprengt, die uns alle in irgendeiner Weise an Falsches und Unfreies binden.
Wer blind lebt, dem bleibt der Glauben stumpf und alles Singen stumm – wie eben auch der Gospelsong.
Die aus Baltimore (USA) stammende Musikerin Flois Knolle-Hicks ist eine seit vielen Jahren profilierte Gospel-Sängerin und Chorleiterin. Dabei verbindet sie die christliche Botschaft stets mit gesellschaftlichem Engagement. Flois Knolle-Hicks ist mit einem deutschen Pastor verheiratet und lebt an der Bergstraße. Am Samstag, 2.6.2012 um 18 Uhr tritt sie mit Spirituals in einem Themengottesdienst der Evangelischen Kirchengemeinde Liederbach (Alt Oberliederbach 5) auf.