Beim Thema Spiritualität denkt Emel Erdem vor allem an tanzende Derwische und an Menschen, die sich bei der gemeinsamen Koran-Rezitationen in Trance versetzen. Mit „solchen Sachen“ kann die 35-Jährige aus Germersheim nicht viel anfangen. Diese Methoden, Gott nahe zu sein, sind ihr nicht geheuer. Emel ist die Tochter türkischer Arbeitsmigranten, inzwischen selbst Mutter von zwei Kindern im Alter von acht und zwei Jahren und Muslimin. Religiös wurde sie im Laufe ihres Erwachsenwerdens. Sie beschreibt sich als "Autodidaktin", die Allah auf der Suche nach ihrer Identität entdeckt hat. Als Heranwachsende hatte sie viele Fragen, Antworten fand sie im Islam.
Mit 16 beschloss Erdem, ihr Haar zu verhüllen und setzte das gegen den Willen ihrer Eltern durch. Ihr Glaube, sagt sie heute, helfe ihr, bei sich zu sein. Ganz stark gespürt hat Erdem das in einer sehr schwierigen Phase zu Beginn ihres Studiums. Damals quälten sie familiäre Probleme, sie fühlte sich in der Sackgasse und betete sehr viel. Im Gebet war sie Gott ganz zugewandt, sagt Erdem. Sie empfand dabei etwas, das sie "gar nicht in Worte fassen kann". Das Gefühl kennt sie auch heute, wenn sie im Koran liest, manchmal auch während des rituellen Gebets. Momente, in denen sie "sehr berührt" ist, hat sie allerdings „leider nicht oft“.
Spiritualität braucht Muße
Ähnlich beschreibt Halime Özaslan ihre Erfahrungen. Die Muslimin, 35 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern, lebt in einer Kleinstadt in Nordhessen. Auch sie trägt das Kopftuch. „Eigentlich“, sagt Özaslan, „ist nach islamischen Verständnis jede Handlung mit Spiritualität verbunden.“ Eigentlich. „All die vielen alltäglichen Dinge, die es zu bedenken und erledigen gilt, lassen nicht zu, dass ich im Gebet abschalten kann“, erzählt Özaslan.
Oft stelle sie fest, dass sie das rituelle Gebet lediglich „verrichte“, also nicht mit Herz und Seele dabei sei. Für spirituelle Empfindungen – das Gefühl, Gott nah zu sein – sei Muße nötig. Muße, die sie als Mutter von zwei quirligen Kindern derzeit gar nicht habe. Aber selbst wenn sie mehr Muße hätte, gibt Özaslan zu bedenken, könne man „das Glücksgefühl wohl nicht permanent erfahren“.
Die innere Leere füllen
Eine andere Muslima, ebenfalls durch ihr Kopftuch als solche zu erkennen, Enddreißigerin und Islamwissenschaftlerin, wimmelt ab, kaum dass ihr die Frage nach ihrem spirituellen Zugang zu Gott gestellt ist. „Ich hab’s damit nicht so, mit der Spiritualität“, erklärt die Expertin für die Frühgeschichte des Islams.
Spirituelle Erlebnisse helfen, die innere Leere zu füllen und den harmonischen Zustand zu erreichen, „den wir ‚Seelenfrieden’ oder ‚Glückseligkeit’ bezeichnen“: So beschreibt es Ali Özgür Özdil. Der Imam aus Hamburg erlebt diesen Zustand nach eigenem Bekunden etwa bei der Koranlektüre. Das Beten und das Lesen religiöser Literatur seien zwei von mehreren Wegen, meint der Imam. Ein Tor für spirituelle Erlebnisse könnten auch Begegnungen und Gespräche mit besonderen Menschen sein. Aber auch Özdil stellt fest: „Spiritualität ist eine individuelle Erfahrung, für die der Mensch manchmal noch nicht einmal die richtigen Worte finden kann.“
Spiritualität hat nichts mit Formalismus zu tun
Und Bülent Ucar, Religionswissenschaftler an der Universität Osnabrück, sagt: „Mit dem Glauben an das, was man nicht sehen, hören, erfassen kann, beginnt die Spiritualität.“ Spiritualität sei ein Wesenszug des Islam. Das wiederum bedeute keineswegs, dass jeder Moslem spirituelle Erfahrungen mache, räumt Ucar ein. Selbst ein religiös gebundener Mensch, der fünfmal am Tag das rituelle Gebet verrichte, faste und die Gebote einhalte, erlebe nicht unbedingt Spiritualität.
Für Menschen mit einem Hang zum Formalismus sei das auch gar nicht von Bedeutung, sagt Ucar. Manch einem sei Spiritualität „ganz wesensfremd“, andere stark davon geprägt, auch wenn sie sich nicht streng an die Gebote halten. Spiritualität und Feingefühl gehörten zusammen. Eigentlich solle im rituellen Gebet der Dialog des Gläubigen mit seinem Gott erfolgen und die tiefen Dimensionen der Religion erfasst werden. Doch allzu oft werde das Gebet, weiß Ucar auch von sich selbst, als ein Ritus praktiziert, der nichts Spirituelles mehr in sich verbirgt.
Murad Bayrakdar findet durchaus Worte für seine Empfindungen und Gedanken. Der 37-Jährige ist ein so genanntes Kofferkind. Im Grundschulalter schickten ihn seine Eltern zu den Großeltern in die Türkei, als erwachsener Mensch kehrte er zurück nach Deutschland. Im Herkunftsland erlebte Bayrakdar den Islam im „natürlichen Umfeld“, wurde von den Großeltern religiös erzogen und auch über religiöse Mitschüler und Lehrer geprägt. Eine Frage beschäftigt ihn besonders: Ob der Mensch im Jenseits tatsächlich belohnt wird dafür, dass er im Diesseits ein gottgefälliges Leben geführt hat. Diese Frage führt ihn zur Spiritualität.
Vom Trubel des Alltags ausklinken
Orte dafür sind für Bayrakdar vor allem Moscheen. In einem schönen Gebetsraum könne er sich vom Trubel des Alltags ausklinken und sich Gott zuwenden. „Wenn ich die Augen schließe, dann habe ich ein Gefühl vom Fliegen.“ Doch diese Erlebnisse hat er in Deutschland ganz selten. „Deutschland hat mir Möglichkeiten für spirituelle Erlebnisse genommen“, sagt Bayrakdar. In Hinterhofmoscheen, „die hässlich sind und in denen es nach Socken stinkt“, könne er nicht zu sich kommen. Spiritualität ist für ihn auch mit ästhetischem Erleben verbunden. In einer „schönen Moschee“ könne er in sich gehen. Dann sei er ganz und gar ergriffen, so sehr, dass ihm manchmal Tränen kommen.