Frankfurt a.M. (epd). Die Nato ist nach Ansicht des Konfliktforschers Jonas J. Driedger weiterhin ein wichtiger Sicherheitsrahmen für Europa. Auch nach den Attacken der USA auf die Bündnispartner und der Kehrtwende in der Ukraine-Politik habe die neue US-Regierung unter Präsident Donald Trump bisher keine Zweifel am Bestand der Nato aufkommen lassen, sagte der wissenschaftliche Mitarbeiter am „PRIF - Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung“ in Frankfurt am Main dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Beistandsklausel für alle Mitgliedstaaten sei weiterhin in Kraft.
Dennoch müssten die Europäer mehr in ihre Sicherheit und Handlungsfähigkeit investieren, sagte der Politikwissenschaftler. Die US-Regierung habe gefordert, dass die Europäer die Hauptlast der Absicherung der Ukraine nach einem Waffenstillstand übernehmen müssten. Auch wegen der Unberechenbarkeit von US-Präsident Trump sollten die Europäer ein Eigeninteresse an größerer Eigenständigkeit haben. Dann könnten sie in der Nato mehr Gewicht in die Waagschale werfen und möglicherweise Einfluss auf Verhandlungen zur Zukunft der Ukraine nehmen. Die Nato biete mit ihrer Koordinationskraft als Sicherheitsbündnis viele Vorteile, die die langsamen und störanfälligen EU-Strukturen noch nicht leisten könnten.
Für eine stärkere Eigenständigkeit in der Sicherheitspolitik müssten die europäischen Staaten sich in verschiedene Richtungen vortasten, sagte Driedger. Beispielsweise hätten in einem lockeren Rahmen Großbritannien, die skandinavischen und baltischen Staaten sowie die Niederlande eine multinationale Truppe aufgestellt (Joint Expeditionary Force). Das Konzept einer europäischen Armee stoße abstrakt auf hohe Zustimmung in der Bevölkerung, aber eine Verwirklichung sei nicht absehbar. So wollten die Deutschen nicht auf die Entscheidungsbefugnis des Bundestages verzichten, was für andere Staaten inakzeptabel sei und schnelles europäisches Handeln im Krisenfall erschweren würde. Wichtig sei in praktischer Hinsicht, dass die europäischen Mittelmächte Großbritannien, Frankreich und Deutschland sich militärisch koordinierten, sodass kleinere Staaten sich an ihnen orientieren könnten.
Der Gedanke, dass eine Ausweitung des französischen Nuklearschirms auf andere europäische Länder kurzfristig den amerikanischen ersetzen könne, sei ein „Blindgänger“, sagte der Konfliktforscher. Frankreich müsste dafür sein Arsenal stark ausbauen, seine Doktrin ändern und durch Abkommen mit anderen Staaten Glaubwürdigkeit herstellen. Dazu sei bisher kein hinreichender politischer Wille erkennbar. Bei allen sonstigen Verwerfungen lasse die US-Regierung derzeit keine Anzeichen erkennen, dass sie die atomare Abschreckung mit einer Teilhabe europäischer Nato-Verbündeter wie Deutschland zurückziehen wolle.