Die Stellungnahme der großen Kirchen zum CDU/CSU-Vorschlag eines Migrationsbegrenzungsgesetzes erfuhr teils Anerkennung, wurde teils kritisiert und teils verspottet. Die ehemalige CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer etwa verlässt das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, und aus Gemeinden hört man von Verstimmungen: Haben sich die Kirchen nicht zu hart geäußert? Haben sie sich auf problematische Weise parteipolitisch in den Wahlkampf eingemischt?
Auf den ersten Blick fand ich persönlich die Äußerungen der Kirchen sympathisch. Aber schaut man sie sich genauer an, wirken sie eigenartig unstimmig! Es wurde vielerorts berichtet, dass die Abstimmung über das Migrationsbegrenzungsgesetz bei den Kirchen dramatische Sorge um die Demokratie und Befremden über den politischen Stil auslöste. In der eigentlichen "Stellungnahme" der Kirchen findet man aber keine näheren Hinweise zu diesen scharfen Ansagen.
Das Dokument wirkt handzahm und detailverliebt. Das hat den beiden Kirchenvertretern sogar den Vorwurf eingebracht, bei ihnen würden religiöse Ansprüche die demokratische Entscheidungsfindung übertrumpfen. Das käme einer unlauteren parteipolitischen Einmischung gleich. Ein näherer Blick in die Unterlagen liefert eine Erklärung für diese eigenartigen Vorgänge. Abschließend möchte ich skizzieren, was die Kirchen meiner Meinung nach hätten besser machen sollen.
Der Auslöser der Debatte
Anne Gidion, Bevollmächtigte der EKD bei der BRD, und Karl Jüsten, Leiter des katholischen Kommissariats der deutschen Bischöfe, haben an die Abgeordneten des Bundestages geschrieben: Der Gesetzesvorschlag drohe, unserer Demokratie "massiven Schaden" zuzufügen. "Zeitpunkt und Tonlage der aktuell geführten Debatte befremden uns zutiefst". Die Kirchen kritisieren einen empörenden Populismus in der CDU und CSU. Diese Zitate waren überall in der Presse zu lesen, und auf sie beschränkte sich die Berichterstattung.
Alexander Maßmann wurde im Bereich evangelische Ethik und Dogmatik an der Universität Heidelberg promoviert. Seine Doktorarbeit wurde mit dem Lautenschlaeger Award for Theological Promise ausgezeichnet. Publikationen in den Bereichen theologische Ethik (zum Beispiel Bioethik) und Theologie und Naturwissenschaften, Lehre an den Universitäten Heidelberg und Cambridge (GB).
Die scharfen kirchlichen Äußerungen stammen aus einem Brief, der nicht leicht aufzufinden ist – er war wohl nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. Es handelt sich bloß um eine einzelne Seite, die im Stakkato ein paar knappe Aussagen telegrafiert. Allgemein zum Download stellen die Kirchen dagegen ein anderes Dokument bereit: eine vierseitige "Gemeinsame Stellungnahme", die die Teams um Gidion und Jüsten zum Gesetzesentwurf erarbeitet haben. Sie war besonders für die Bundestagsabgeordneten gedacht. In drei Abschnitten werden dort die Paragraphen 1, 36 und 71 des "AufenthG-E" diskutiert. Das ist politisch interessant und wichtig, aber auch etwas trockene Juristerei. Und vor allem: Das ist eine sachliche Argumentation, die auf alles Drama verzichtet. Demokratie in Gefahr? Empörender Ton, unglücklicher Zeitpunkt? Von solchen Dingen weiß die "Gemeinsame Stellungnahme" nichts. Ich halte diese Stellungnahme für einen sinnvollen Beitrag zur Debatte. Doch dass es zu ihren Aussagen für aufrechte Demokratinnen und Demokraten keine Alternative geben könne, ist keineswegs der Eindruck, den die Stellungnahme erweckt.
Das Grundgesetz
Schweres Geschütz fährt die Stellungnahme immerhin auf, wenn sie argumentiert: Die Aussetzung des Familiennachzugs, die die Union bei bestimmten Geflohenen fordert, verstoße gegen das Grundgesetz. Man kann die Forderung der Union kritisieren, und ich finde es enttäuschend, dass die Union in einer heiklen Situation eine Kampfabstimmung über ein problematisches Gesamtpaket herbeigeführt hat. Doch ich bin noch nicht recht überzeugt, dass das Grundgesetz den Familiennachzug tatsächlich in allen Fällen gewährleistet.
Nach Ansicht der Kirchen beginnt der Anspruch auf Familiennachzug anscheinend damit, dass die Fliehenden deutschen Boden betreten. Doch die Fliehenden, um die es dem Gesetzesverschlag ging, überqueren die Grenze genaugenommen illegal, da sie sich zuvor in einem sicheren europäischen Drittstaat aufgehalten haben (Dublin III). Angesichts einer Notlage liegt es im Ermessen der Bundesregierung, solche Einreisen zu dulden. Doch schon das Grundrecht auf Asyl, das das Grundgesetz allgemein zusichert, haben diese Drittstaatler gegenüber Deutschland eigentlich nicht.
Das Papier der Kirchen nennt weitere Gründe, aus denen man allen Drittstaatlern weiterhin den Familiennachzug gewähren soll, doch möglicherweise zählt eine vermeintliche Garantie durchs Grundgesetz nicht zu diesen Gründen. Der Stellungnahme der Kirchenvertreter hier zu widersprechen, bedeutet nicht, Demokratie oder Rechtsstaat in Frage zu stellen. Zum Glück behauptet die Stellungnahme das nicht – anders, als der Begleitbrief vermuten ließe. Für die harte Anklage in dem Begleitbrief hätten die Kirchenvertreter andere Begründungen finden müssen.
Rekonstruktion
Kein Wunder, dass die Presse den schneidigen Brief und nicht die juristische Stellungnahme aufgreift – obwohl die Entstehungsgeschichte eine andere gewesen sein muss: In Abstimmung mit den juristischen Abteilungen wurde anscheinend zuerst ein etwas trockener, sachlicher Text erarbeitet. Dem würden aber die Bundestagsabgeordneten in der kurzen Zeit kaum besondere Aufmerksamkeit schenken. Also musste ein knackiger Begleitbrief etwas Feuer in die Sache bringen – weniger juristisch, mit scharfen Formulierungen. Die Stellungnahme sollte das Event sein, der Brief lediglich Türöffner. Ohne den Begleitbrief wäre die Stellungnahme untergegangen. Doch der Brief gerät recht scharf, er wird an die Presse weitergereicht, und plötzlich steht die Sache auf dem Kopf: Die Öffentlichkeit nimmt nur noch den Brief wahr, obwohl der nicht öffentlich war, und kaum jemand nimmt Notiz von der juristischen Feinarbeit, die das eigentliche Anliegen war und die für alle zum Download bereitsteht.
Protest ja – aber mit schlüssiger Begründung
Diese Rekonstruktion ist meine eigene Vermutung, mit der ich das eigenartige Missverhältnis der Dokumente erklären möchte. Um ein Missverhältnis handelt es sich in der Tat: Der Brief kritisiert deutlich "Zeitpunkt und Tonlage" der Debatte, doch was an Zeitpunkt und Tonlage zu kritisieren ist, buchstabieren die Kirchen nirgends aus. Im Brief heißt es, der Gesetzesvorschlag sei "geeignet, alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren". Das hätte die Stellungnahme aufgreifen und untermauern müssen. Überlegungen zu unserer Demokratie finden sich in der Stellungnahme ebenfalls nicht. Gut gebrüllt, Löwe – allein die Begründungen fehlen!
Kein Wunder, dass nun die Kritik laut wird, Kirchens wollten die pluralistische Zivilgesellschaft bevormunden. Ein Theologe, Ulrich Körtner, zürnt, "dass die Kirchen auf diese Weise wieder ein politisches Wächteramt in Anspruch nehmen" wollen, "das in der heutigen Theologie mit Blick auf eine moderne Demokratie weitgehend für problematisch angesehen wird". Ich vermute, das war nicht die Absicht – nur verspricht der Begleitbrief mehr, als die Stellungnahme halten kann! Das Problem ist außerdem nicht, wie Körtner meint, dass die Kirchen theologische Aussagen vermeiden – das würde den Verdacht religiös-politischer Anmaßung ja nicht entkräften. Vielmehr liefern sie keinerlei Begründungen, die die Schärfe der Anschuldigungen rechtfertigen würden. Kirchen können sich durchaus in parteipolitische Angelegenheiten einmischen – aber nur dann, wenn sie ihre Ansichten mit sehr guten, einleuchtenden Argumenten untermauern!
Gegenvorschlag
Die beiden Dokumente der Kirchen wollen zu viel und zu wenig zugleich. Es wäre es sinnvoller gewesen, wenn sich die Kirchen vielleicht etwas weniger scharf, dafür aber schlüssig und speziell zu den größeren moralischen Linien der Debatte selbst geäußert hätten. Zuerst wäre der Name des Gesetzesvorschlags zu kritisieren. Weshalb spricht der Titel von einem "illegalen Zustrom von Drittstaatsangehörigen" wie von einer Naturgewalt? Weshalb heißt das Gesetz nicht: "Gesetz zur Begrenzung der illegalen Einreise von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland"? In der Zeit wendet ein Kommentar zurecht ein, dass der Begriff "Zustrom" "demagogisch" ist. Den Kirchen, die sich dem verantwortungsvollen Gebrauch des Wortes verpflichtet wissen, hätte eine solche Kritik ebenfalls gut angestanden. Dieser Hinweis hätte ihre Kritik am "Tonfall" der Debatte sinnvoll untermauert. SZ, Spiegel und FR etwa setzen das "Zustrombegrenzungsgesetz" konsequent in Anführungszeichen, sprechen vom "sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz" oder nennen es das "Migrationsbegrenzungsgesetz". Dass Körtner den Begriff "Zustrom" wie selbstverständlich und unkritisch verwendet, ist dagegen bedauerlich.
Dass die Kirchen es ablehnen, Abschiebungen zu erleichtern oder den Familiennachzug zu erschweren, war vorhersehbar. Wen die EKD auf der Synode im November noch nicht überzeugt hat, die hat sie auch mit der jüngsten Intervention nicht überzeugt. Dagegen haben die Kirchen das unkommentiert gelassen, was an der Bundestagsdebatte neu war. Die Union war so einfallslos, einen Gesetzesvorschlag noch einmal aufzuwärmen, mit dem sie sich bereits im November nicht durchsetzen konnte. Angesichts des Anschlags von Aschaffenburg hätte die verantwortungsethische Position darin bestanden, dass Opposition und Regierung konkrete Maßnahmen in Gestalt eines Kompromisses aushandeln. Stattdessen wollte die Opposition mit dem Kopf durch die Wand. Mit der Abstimmung, sogar direkt nach einer Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus, widerlegte Friedrich Merz die eigene Aussage, keine Beschlüsse herbeizuführen, die von der Zustimmung der AfD abhängen. Sollte der Oppositionsführer das Versprechen vor "Aschaffenburg" etwa getroffen haben, im naiven Glauben, mit einer weiteren bösen Überraschung vor der Wahl sei nicht zu rechnen?
Natürlich können die Kirchen auch spezifische fachjuristische Einwände gegen den Gesetzesvorschlag erheben. Solche Einwände machen aber vollständig die Substanz der "Stellungnahme" aus. Die scharfen Ansagen des Begleitbriefes betreffen allgemeiner die Ethik des Politikbetriebs, bleiben dann aber ohne Begründung und weisen kaum Berührungspunkte zur "Stellungnahme" auf. Hätten die Kirchen dagegen Hinweise zum Selbstverständnis einer verantwortungsvollen, nicht populistischen Politik konsequent ins Zentrum gestellt, wäre die Kritik insgesamt glaubwürdiger ausgefallen.
Evangelisch kontrovers als Video-Podcast
Gemeinsam mit dem Pfarrer und Ethiker Fabian Kliesch diskutiert Alexander Maßmann umstrittene Themen des öffentlichen Lebens aus christlich-theologischer Perspektive. Der aktuelle Podcast beschäftigt sich mit "Flüchtlingen": Soll die deutsche Politik die Regeln für geflohene Menschen ändern? Der Kanal kann auf Youtube abonniert werden.
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