"Wir wenden uns mit seitlich nach vorne gestreckten Armen zum Taufbecken, heben den rechten Arm und schieben ihn zur Kanzel. Wir ziehen die Arme vor die Brust und wenden uns wieder dem Taufbecken zu." Zu den Anweisungen von Silke Kaukel bewegen sich rund 150 Erwachsene und Kinder mehr oder weniger synchron. Die Trainerin und ihre Kollegin stehen nicht in einem Fitnessstudio, sondern vor dem Altar der Unionskirche im südhessischen Idstein. Pfarrerin Daniela Opel-Koch hat zum Body-Balance-Gottesdienst eingeladen, was viele Menschen neugierig gemacht hat.
Die aus der alten Stiftskirche aus dem 14. Jahrhundert hervorgegangene, mit Säulen und Arkadenbögen aus Marmor ausgestattete Kirche ist voll. Rund um das Taufbecken, unter der Kanzel, im Seitenschiff, vor dem Altar - Matte liegt an Matte. Einige machen auch auf der Empore mit, wo weitere Besucher stehen, die sich den ungewöhnlichen Gottesdienst von oben betrachten.
"Es ist der Versuch, eine völlig andere Klientel mit der Kernbotschaft des Christentums zu erreichen", erläuterte die Pfarrerin die Aktion zuvor dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es gehe um die bereits in der Bibel angelegte Verbindung von Sport und Spiritualität. Dort werden die Menschen als eine "leibseelische Einheit" verstanden, erklärt die experimentierfreudige Theologin. Sie zitiert den ersten Korintherbrief, in dem vom Körper als "Tempel des Geistes" die Rede ist und davon, dass "wir das eine nicht ohne das andere betrachten können".
Vor dem Sonnengruß kommt der Psalm 121
Der Gottesdienst beginnt mit einem Votum: "Wir sind hier versammelt, Herz an Herz, im Namen dessen, der alles ins Leben ruft", sagt die Pfarrerin. Sie spricht von Jesus, von der göttlichen Kraft, "der Quelle allen Seins". Dem Eingangstext folgt ein Warming-up mit Bewegungen aus dem Tai-Chi, begleitet von einer Orgel-Improvisation. Die Streckung nach oben ist ungefährlich, dort fällt der Blick auf die Freskomalerei mit Darstellungen aus dem Evangelium. Schwierig sind ausladende Bewegungen zur Seite, dabei landet in der vollen Kirche ein Arm auch mal gefährlich nahe bei der Nachbarin.
Es sind vor allem Frauen aller Altersklassen gekommen, und sie sind aufmerksam bei der Sache. Als die Pfarrerin vor dem Sonnengruß den Psalm 121 liest, haben viele die Augen geschlossen und lassen die Worte auf sich wirken. Woher erwarten wir Hilfe? "Meine Hilfe kommt von dem, der Himmel und Erde gemacht hat", liest Daniela Opel-Koch.
Der Sonnengruß aus dem Yoga bringt die Menschenansammlung wieder in Bewegung: strecken und dehnen, beugen und in die Knie gehen. "Mir tun die Knie weh, ich geh' lieber hoch zu Oma", jammert ein Junge im Grundschulalter. Und bleibt dann doch, angesteckt vom Eifer der Mädchen rund um ihn herum. Die kraftvolle Yogastellung der Kriegerin gelingt und motiviert zum Weitermachen.
Elemente aus Yoga, Tai-Chi und Pilates wechseln mit Texten, Gebet und einem alternativen Glaubensbekenntnis, das sich an "die Urkraft im Himmel" wendet. Die Töne der Orgel werden immer wieder abgelöst von rhythmischen Beats vom Band. Nach einer Schlussentspannung gibt es den Segen von Daniela Opel-Koch - und langen Applaus für das Experiment.
Von einer ganz besonderen Erfahrung spricht Larissa Hartmann, von einer gelungenen Verbindung von Körper und Geist. Sie besuche nur ab und an einen Gottesdienst. Wenn die Kirche "mit der Zeit geht" und solche außergewöhnlichen Angebote mit klassischen kombiniere, finde sie das "sehr schön", schwärmt die Idsteinerin, als sie ihre Matte zusammengerollt hat.
Dass dieses Experiment sich auszahlen und viel Anziehung erzeugen werde, glaubt Benedikt Schneider. Obwohl er einer der wenigen männlichen Teilnehmer war, habe er sich nicht als Exot gefühlt und will "alle Männer ermutigen, dazuzukommen".
Die zweite Trainerin Claudia Diefenbach bietet ihre Kurse ansonsten in Sportstätten an. Sie war von der Kulisse ebenso beeindruckt wie von der Abwechslung, "dass man die Seele anspricht und dann wieder seinen Körper damit arbeiten lässt".
Als sich die Kirche leert, steht Daniela Opel-Koch noch immer vor dem Altar und erteilt den persönlichen Segen. Rund 30 Menschen haben die Einladung dazu angenommen. Nach dem letzten Segen ist die Pfarrerin erschöpft, aber glücklich "nach so viel Kontakt und Wärme und Liebe". Gottesdienst mit dem Körper zu feiern, "das war eine coole Idee", resümiert sie.