Im Sommer 1941 hält Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster, drei Predigten in Folge, die bis heute als seine "Brandpredigten" bekannt sind."Dann ist der Mord an uns allen freigegeben" ist die letzte davon. Diese hält der Bischof in der Lambertikirche in Münster. Auf den Bänken sitzen auch Vertreter der Gestapo.
Am 3. August 1941 ist die Lambertikirche "zum Bersten voll". Zeitzeug:innen berichten, dass viele der Gottesdienstbesucher:innen extra Zettel und Stifte bereithalten, um die Worte des Bischofs mitzuschreiben. Und diese Worte sind deutlich: Der in Oldenburg geborene Clemens August Graf von Galen beginnt unmittelbar mit einer Anklage gegen die Gestapo, die "ihr Zerstörungswerk an der Kirche" ungebrochen fortsetze. "Ich muss leider mitteilen, dass die Gestapo auch in dieser Woche ihren Vernichtungskampf gegen die katholischen Orden fortgesetzt hat", sagt er und knüpft damit nahtlos an seine nur wenige Tage zuvor gehaltenen Predigten "Die Gerechtigkeit ist das Fundament der Staaten" sowie "Wir sind Amboß, nicht Hammer" an.
Bereits in diesen beiden Predigten protestierte er lautstark gegen die willkürlichen Verhaftungen, die Enteignung von Klöstern und kirchlichem Besitz sowie der Ausweisung von kirchlichen Mitarbeiter:innen. "Keiner von uns ist sicher, und mag er sich bewusst sein, der treueste, gewissenhafteste Staatsbürger zu sein …, dass er nicht eines Tages aus seiner Wohnung geholt, seiner Freiheit beraubt, in den Kellern und Konzentrationslagern der GSTP eingesperrt wird", sagt er am Sonntag, den 13. Juli. Für ihn gilt das Credo: "Die Gerechtigkeit ist das einzig tragfeste Fundament aller Staatswesen. Das Recht auf Leben, auf Unverletzlichkeit, auf Freiheit ist ein unentbehrlicher Teil jeder sittlichen Gemeinschaftsordnung."
Nur einen Sonntag später, am 20. Juli 1941, predigt er erneut, diesmal in der Überwasserkirche, wieder geht es gegen die religiöse Unterdrückung durch das NS-Regime: "Hart werden, fest bleiben! … Wir sind in diesem Augenblick nicht Hammer, sondern Amboss. … Der Amboss kann nicht und braucht auch nicht zurückzuschlagen. Er muss nur fest, nur hart sein." Ein Bild, mit dem er die Kraft des Widerstands durch Unnachgiebigkeit und Geduld nicht nur der Christ:innen in Münster, sondern aller Christen in Deutschland beschwört. Hammer und Amboss sind einprägsam und wuchtig.
Seine Worte werden vielfach weitergereicht: "Meine Mutter erzählte mir, dass Nonnen nächtelang daran gesessen hätten, um diese Predigt tippend zu vervielfältigen, um sie dann in der Überwasserkirche heimlich zu verteilen", heißt es in einem Leserbrief, der auf einer münsterländischen Heimatseite veröffentlicht wurde.
Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten
Nur zwei Wochen später setzt der Münsteraner Bischof in der bekanntesten "Brandpredigt" nach. Dieses Mal stellt er sich auch gegen das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten. Ungeheures geschehe in Deutschland, sagt er. Das fünfte Gebot "Du sollst nicht töten" werde eklatant gebrochen: "Seit einigen Monaten hören wir Berichte, dass aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind ( ...) zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden." Er, als Bischof, habe gesicherte Kenntnis darüber, dass eine große Zahl geisteskranker Menschen bereits vorsätzlich getötet worden sei und in Zukunft getötet werden soll, fährt er fort.
Da es sich hierbei um ein "Verbrechen wider das Leben" handele, habe er, Bischof von Galen, am 28. Juli 1941 Anzeige erstattet, bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Münster sowie beim Polizeipräsidenten, erklärt er. "Hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?"
Grausame Taten plötzlich im Licht der Öffentlichkeit
Es ist das erste Mal, dass ein hochrangiger Kirchenvertreter öffentlich das von den Nationalsozialisten durchgeführte NS-Euthanasie-Programm anspricht und dagegen aufbegehrt. "Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den 'unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! … Dann wehe unsern braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren", beschreibt er die Folgen der Gräueltaten der Nationalsozialisten. Zahlreiche seiner Zuhörer:innen hatten bisher nur als Gerücht von der Tötung Geisteskranker durch die Nationalsozialisten gehört. Da aber nun ein Bischof in einer Kirche offen über das Euthanasieprogramm spricht, macht es für sie wahr. Ein persönliches Wagnis, das der Bischof auf sich nimmt.
Es soll tumultartige Szenen in der Kirche gegeben haben, sagen Zeitzeugen. Während in Notwehr oder "im gerechten Krieg Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten" sei, so von Galen, verurteile er eine Tötung "unproduktiver" Volksgenossen auf das Schärfste.
Seine Predigtexte werden rasch durch illegale Flugblätter und Nachdrucke in ganz Deutschland verteilt. Auch Widerstandsgruppen wie die "Weiße Rose" berufen sich auf von Galens Worte. Die Predigttexte erreichen letztlich sogar die Front und werden international bekannt. Auch der britische Sender BBC berichtet über von Galens Protest gegen die Gestapo und die Euthanasie-Morde: "In der Anklage, die der Bischof von Münster, Graf Galen, gegen die Gestapo erhoben hat, ist gerade diese Politik besonders gebrandmarkt worden. Dieser Massenmord an hilflosen Geschöpfen ist eines der grauenvollsten Kapitel in den Annalen der Gestapo-Verbrechen." Nicht zuletzt wegen von Galens öffentlichem Protest werden die großflächigen NS-Euthanasie-Programme zumindest öffentlich abgebrochen. Mehr als 80.000 Menschen werden dennoch unter Hitlers Herrschaft auf diese Art ermordet.
Sein Amt rettet sein Leben
Von Galen selbst verlässt die Kirche an jenem Sonntag und ist sich sicher, unmittelbar von der Gestapo verhaftet zu werden. Doch dies geschieht nicht. In den Führungsgremien der NSDAP herrscht zwar große Aufregung und Hitler und Goebbels bezeichnen von Galen als "Staatsfeind", aber er wird nicht inhaftiert. Der damalige Reichsleiter Bormann schlägt Hitler laut historischen Dokumenten vor, den Bischof zu verhaften und zu erhängen. Was von Galen davor bewahrt, ist sein hohes Kirchenamt. Die nationalsozialistische Führung fürchtet, ihn durch die Todesstrafe zu einem Märtyrer zu erheben und verschiebt die "Abrechnung" auf das Ende des Krieges.
Es bedrückt den Bischof, dass statt ihm 24 Weltpriester und 13 Ordensgeistliche aus der Diözese Münster ins Konzentrationslager gebracht werden. Zehn von ihnen kommen dort ums Leben, heißt es in einer Schrift von Reinhard Lettmann, einem späteren Bischof von Münster, herausgegeben vom Domkapitel Münster, im Jahre 1993.
Die Predigten von Galens gelten bis heute als einer der folgenreichsten öffentliche Proteste gegen die Vorhaben der nationalsozialistischen Machthaber. Mit seinen Worten durchbrach der Bischof das kirchliche und öffentliche Schweigen. So offen und mutig sich von Galen in dieser Predigt gegen die Tötung wehrloser Menschen einsetzte, so wenig tat er es für die anderen Opfer der NS-Verbrechen. Sein Schweigen zu jüdischem Leid, dem Umgang mit Sinti und Roma oder dem Krieggebaren der Deutschen wird von Kritikern in den Fokus gerückt. Auch die Rolle der Kirche im Dritten Reich bleibt umstritten. Aber mit seinen "Brandpredigten" gab Bischof Clemens August Graf von Galen zahlreichen Menschen in dieser Zeit den Mut zurück, sich gegen das Unrecht zu stellen. Und seine Predigten unterstreichen die Macht des gesprochenen Wortes in Zeiten der Unterdrückung.
Kardinal von Galen starb am 22. März 1946. Auf seinem Grab im Dom zu Münster ist sein Wahlspruch zu lesen. "Weder durch Lob noch durch Furcht will ich mich von meinem Weg abbringen lassen." Ein Gedanke, den auch wir heute als Christ:innen befolgen können, sobald Unschuldige oder Andersartige Opfer von Ausgrenzung, Hetze oder Gewalt werden.
Lesen Sie hier den Text seiner Predigt.