Die Medusa ist eins der faszinierendsten Geschöpfe der griechischen Sagenwelt. Ihr Anblick war so grässlich, dass jeder Mensch vor Schreck zu Stein erstarrte. Kein Wunder, dass auf einer diesem Wesen nachempfundenen Skulptur kein Segen liegt. Allerdings dauert es eine ganze Weile, bis der neue Krimi aus der ZDF-Reihe "Die Toten vom Bodensee" die Gorgone aus dem Sack lässt.
"Die Medusa", Fall Nummer 21 für das deutsch-österreichische Ermittlungsteam, beginnt als Thriller: Eine junge Frau und ein kleiner Junge fliehen in Panik durch ein Gestrüpp in Ufernähe; die wie stets vorzügliche Musik von Chris Bremus sorgt für entsprechende Hochspannung. Tags drauf wird die Leiche der Frau angeschwemmt. Laut Aussage von Schwester und Schwager hat Vera einen ihrer Neffen zur Schule gebracht; angeblich ist der Junge später wohlbehalten wieder heimgekehrt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Tatsächlich ist Augustin entführt worden.
Veras Schwager, Andy Löffler (Andreas Kiendl), ist ein vorbestrafter Einbrecher, der dem Verbrechen jedoch abgeschworen hat, seit er Familienvater ist. Nun holt ihn die Vergangenheit ein: Löffler sollte vor einigen Jahren für seinen früheren Komplizen Dominik Haas (Erol Nowak) eine aus dem Kunsthaus Bregenz gestohlene kostbare Beute in Sicherheit bringen. Dabei geriet er mit seinem Boot in einen Sturm; die Medusenskulptur ging über Bord, und das ausgerechnet dort, wo der Bodensee bis zu sechzig Meter tief ist. Kürzlich ist Haas, der als extrem gewaltbereit gilt, aus der Haft entflohen. Er ist überzeugt, dass sich sein alter Kumpan die Geschichte mit dem Sturm bloß ausgedacht hat, und will Augustin gegen die wertvolle Goldbüste tauschen. In seiner Verzweiflung ist Löffler sogar bereit, eine Bank zu überfallen, um den Sohn freizukaufen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bis zu diesem Zeitpunkt wäre "Die Medusa" ein zwar fesselnd umgesetzter, inhaltlich aber nicht weiter ungewöhnlicher Krimi. Das ändert sich, als auch Luisa Hoffmann (Alina Fritsch) mit ihrem ganz persönlichen Dämon konfrontiert wird. Clever greift das Drehbuch von Jeanet Pfitzer, Frank Koopmann und Roland Heep – das Trio hat auch die Vorlagen für die letzten vier Filme geliefert – die Handlung der vor knapp einem Jahr ausgestrahlten Episode "Die Messias" auf. Damals hatte sich rausgestellt, dass die Wiener Inspektorin einst als verdeckte Ermittlerin auf den Kopf eines internationalen Hehlerrings für Kunstwerke angesetzt war. Dummerweise hat sie sich dabei in den Mann verliebt. Antonio Zübert (Luca Dimić) ist der Vater ihrer Tochter Liv und könnte dabei helfen, Augustin zu finden, denn Haas war sein Zellengenosse; aber im Gegenzug will er Liv kennenlernen.
Regie führte Patricia Frey, die zuvor fürs ZDF neben einigen Serienfolgen zwei vor allem auch handwerklich sehenswerte Beiträge für die Krimireihen "Friesland" und "Ein starkes Team" gedreht hat. Ihre "Bodensee"-Premiere zeichnet sich ebenfalls durch eine sorgfältige Bildgestaltung aus; Kameramann Lukas Gnaiger gehört seit "Der Seelenkreis" (2021) regelmäßig zum Filmteam. Ähnlich gut ist Freys Arbeit mit dem Ensemble. Die Gastmitwirkenden sind zwar hierzulande kaum bekannt, aber die Rollen sind markant besetzt; gerade der Österreicher Andreas Kiendl ist sehr präsent. Für Luca Dimić gilt das ohnehin; der gebürtige Bosnier hat bereits in "Die Messias" durch sein Charisma imponiert. Ausgezeichnet geführt sind auch die Kinder; gerade Viola Hornsmann beeindruckt als gehörlose Tochter der Inspektorin. Anders als im Fernsehen zumeist üblich brauchte Alina Fritsch die Gebärdendialoge nicht zu "synchronisieren"; die Übersetzungen werden eingeblendet.
"Die Medusa" ist allerdings die Abschiedsvorstellung der gebürtigen Wienerin: Zwei Jahre nach ihrem ersten Auftritt an der Seite von Hauptkommissar Micha Oberländer (Matthias Koeberlin) in der Episode "Nemesis" wird Luise Hoffmann wieder in die österreichische Hauptstadt zurückkehren. Zum Glück bleibt Hary Prinz der Reihe bis auf Weiteres erhalten, schließlich verkörpert Komlatschek in der Regel ganz allein die heitere Seite der Krimis. Diesmal resultieren die Schmunzelmomente aus den Widersprüchen zwischen ihm und dem deutschen Kollegen: Der zielstrebige Hauptkommissar hat dem vorübergehend wohnsitzlosen Chefinspektor, Lebensdevise "Langsamkeit ist das Geheimnis des Glücks", Asyl gewährt, aber die Wohngemeinschaft muss sich erst noch zusammenraufen. Der Reiz der Filme resultiert zwar vor allem aus den Schauplätzen rund um Bregenz und den interessanten Fällen, aber die Gegensätze zwischen deutschem und österreichischem Naturell bereichern die Reihe ebenfalls.