Wenn man den Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Johann Hinrich Claussen danach fragt, ob eigentlich Kirchenbesuchende wüssten, welche biblische Skulpturen in den Kirchen abgebildet sind, winkt er lachend ab. Da sei viel Luft nach oben. Viele wüssten nicht mehr, was in ihrer Heimatgemeinde alles im Chorgestühl zu sehen sei.
Deshalb bietet das Kulturbüro seit ein paar Jahren eine kleine Heftreihe "Sehen lernen" an, in der Menschen vor Ort entdecken können, welche biblischen Geschichten in Stein gemeißelt oder in Holz geschnitzt seien. Die Hefte richten sich an Erwachsene. Aber auch in der Oberstufe der Schule oder an der Universität seien die Hefte manchmal im Einsatz, in der Kunstgeschichte oder Theologie. Das besondere sei, dass alle Fotomotive aus evangelischen Kirchen stammten, auch dem Osten, aus Mecklenburg oder Sachsen.
Oft ist die Stimmung erstmal gedämpft, wenn der Kunsthistoriker Klaus-Martin Bresgott mit einer Schulklasse der 11. oder 12. Klasse auf Exkursion in eine gotische Kirche geht. Welche Figuren in den Nischen stehen oder an Säulen abgebildet werden, das sei den wenigsten bekannt. Ob da vorne nun ein Tresen steht oder Taufstein und was sich hinter dem Wort Altar verbirgt – Achselzucken. Große Fragezeichen in den Gesichtern der Besucher:innen. Doch wenn die Schüler:innen oder Studierenden dann erfahren, dass der Altar "ursprünglich der Ort gewesen sei, wo das Opfer für den Gott vollzogen wurde" und hier aber für das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern stehe, welches das frühere Opfer aufhebe. Dann bekomme das sakrale Gebäude nach und nach Farbe und einen Sinn, sagt Johann Hinrich Claussen.
Und Bresgott ergänzt: Wenn die Schüler vor Ort erfahren, dass das Taufbecken sechseckig sei, weil damit auf die "Erschaffung des ersten Menschen am sechsten Tag erinnert wird", dann staunen sie über die Symbolik. Denn auch in der Taufe werde der Mensch nach christlichem Verständnis neu geschaffen. Oder wenn Kirchenbesucher Jakobus, den Pilger mit seinem Umhang und der Jakobsmuschel am Hut erkennen und sich langsam erarbeiten, dass Europa früher von zahlreichen Pilgerwegen durchzogen war. Dann wächst langsam so etwas wie Achtung und Stolz auf die alte Kultur der christlichen Vorfahren. Und die Hefte-Reihe des EKD-Kulturbüros bietet da reichlich Stoff zum Entdecken.
Der Kunsthistoriker Bresgott hat in den drei Heftchen der Reihe reichlich Fotos aus evangelischen Kirchen eingebaut. Wer die Figuren vor Ort erschließen will, erfährt gleich den biblischen Hintergrund dazu. "Und das mache einfach Spaß, mit dem Heft in der Hand auf Entdeckungstour zu gehen", berichtet Klaus-Martin Bresgott. Am Anfang stellt er einfache Fragen: Wer sind die beiden älteren, bärtigen Männer im langen Gewand, die Schlüssel und Schwert neben einem Buch halten und meist neben dem Altar platziert sind. Nach der Lektüre weiß man, dass das die beiden Apostel Petrus und Paulus sind. Der Jesusjünger Petrus mit den Schlüsseln für das Auf- und Zuschließen des Himmelreiches, dem himmlischen Paradies. Auf dem Heftcover hält Petrus auf der spätgotischen Malerei sogar eine Brille vor seine Augen. Und der andere Mann ist der Apostel Paulus, der zuvor Christen verfolgt hatte, dann aber zu einem der wichtigsten Missionare der Christenheit wurde. Das Schwert in seiner Hand steht für seine Enthauptung in Rom. Und das Buch in der anderen Hand symbolisiert seine zahlreichen Briefe an die jungen Gemeinden.
Manch eine Exkursion ist eine echte Detektivarbeit. Der Kunsthistoriker fragt die Schüler:innen und Studierenden meist vorher, was sie denken, was eine Skulptur darstellen könnte. Denn die Symbolik der alten Kirchen erschließt sich wirklich nicht, ohne Bibelkenntnisse und Zuordnung zu den Heiligen und Kirchenmännern- und Frauen.
Blume oder Knoblauchknolle?
Da gibt es zum Beispiel eine Darstellung, in der Jesus mit Schwert und Lilie abgebildet wird. Bresgott erwähnt freudig, dass ein Schüler hier die Lilie auch schon mal "als Knoblauch" gedeutet habe "zur Abwehr des Bösen". Auch nicht schlecht, aber diese Deutung passe doch besser in einen Vampirfilm. Tatsächlich werde Jesus so "als Weltenrichter am Ende der Zeiten dargestellt". Das Schwert in der Hand steht dann für die Bestrafung der Bösen und die Lilie für die Reinheit und Gerechtigkeit. Das könne man in dem Heftchen alles nachlesen und dann zuordnen. Manch einer hätte nach diesen Entdeckungstouren tatsächlich Kunstgeschichte studiert, sagt der Buchautor Bresgott. Aber das wichtigste sei, dass man nur das würdigen könne, was man kennt, eben die eigene Geschichte.
Info: Die kleine Heftreihe "Sehen lernen" aus dem EKD-Kulturbüro ist gegen Selbstkostenpreis zu 4 bzw. 5 Euro pro Stück erhältlich. Weitere Details auf der Website.