Wer an die Reden Adolf Hitlers denkt, sieht wahrscheinlich einen kleinen zornigen, immer heftiger brüllenden Mann vor sich. Er redet sich in Rage, spuckt ins Mikrophon und scheint irgendwann regelrecht zu bellen. Dieser Eindruck stammt aus Dokumentationen oder alten Aufnahmen der damaligen Deutschen Wochenschau. Allerdings zeigen sie nur ein Bild von Hitler. Wie vielfältig er im Umgang mit seinem Publikum war und wie es ihm und seinen Gefolgsleuten gelungen ist, politische Ziele durch den systematischen Einsatz rhetorischer Mittel zu erreichen, will die "Edition der Reden Adolf Hitlers von 1933 bis 1945" zeigen.
In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsverbund untersuchen Historiker, Sprachwissenschaftler sowie Tontechniker und Archivare rund 800 Reden von Adolf Hitler. "Wir erarbeiten einen kritischen historischen Apparat, der sowohl die Umstände und Kontexte der Reden in Gänze dokumentiert als auch die Rollen, die Hitler und seine Entourage gespielt haben", erläutert Christoph Cornelißen, Professor für Neueste Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Gemeinsam mit einem Team hat Cornelißen sich die rund 350 Audiodateien mit Hitlers Reden vorgenommen. "Wir untersuchen nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch, wie er es gesprochen hat", fügt er hinzu. "Es geht um die politische Rede in Krisenzeiten", betont die Historikerin Muriel Favre von der Goethe-Universität und schlägt den Bogen zur heutigen Zeit. Sie und ihre Kollegen hoffen, dass ihre Ergebnisse breit in Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten wahrgenommen werden, um damit für politische Reden zu sensibilisieren. "Wir setzen auf die aufklärende Funktion", sagt Cornelißen. Mit der Edition "wollen wir eine Lücke schließen", erklärt der Historiker. Es existiere bereits eine kritische Edition von Hitlerreden, aber die reiche nur bis 1932. Für den Zeitraum 1933-1945 stehe momentan lediglich eine höchst problematische Edition aus den 1960er Jahren zur Verfügung. In der seien unter anderem antisemitische Passagen wiederholt herausgestrichen worden, die folglich das Bild von Hitler verzerren.
Wie Hitler sprach und wie er aufgetreten ist, das hing nach den Worten der Wissenschaftler von seinem Publikum ab. Schon frühere Forschungen zeigten, dass er mal als der harte Antisemit auftrat, mal als Charmeur oder Komödiant. Der "talentierte und geschickte Redner", so Cornelißen, sei in der Lage gewesen, sich mit Emphase, mit dem ganzen Körper, der Gestik und der Mimik auf sein jeweiliges Publikum einzustellen und es so für sich zu gewinnen. Er habe bewusst Stilelemente der modernen Redetechnik eingesetzt, etwa seine Pausen, mit denen er Spannung erzeugt habe, um sein Publikum auf Sachverhalte aufmerksam zu machen. Geschult und begleitet habe ihn ein Opernsänger.
Massenveranstaltungen wie "säkulare Messe"
Was er nicht gekonnt habe, sei alleine vor dem Radiomikrophon zu reden. Seine im Radio übertragenen Ansprachen seien fast immer Übertragungen von Veranstaltungen, oft sogar von Massenveranstaltungen gewesen, sagt Favre. Diese seien minutiös geplant und inszeniert worden.
Cornelißen spricht von einer Art "säkularer Messe". Hitler sei keineswegs nur der "bellende Hund" gewesen, der irgendwelche Paraphrasen der NS-Ideologie unter die Menschen bringen wollte. Er habe vielmehr geschaut, wer vor ihm stand und dann sein Publikum beispielsweise durch Ironie oder Feindbilder sowie durch emotionale Aufwühlung erreicht. Nur vor Publikum sei er "zur Höchstform aufgelaufen".
Die Erforschung der Reden Adolf Hitlers werde auch zeigen, welche Rolle das Emotionale und das Irrationale bei politischer Kommunikation spielen können, ist sich die Historikerin Favre sicher. "Rhetoriken, die wir in den vergangenen Jahren über uns ergehen lassen durften, zeigen die Dringlichkeit des Vorhabens", unterstreicht Cornelißen.