Mit einladender Armbewegung heißt Pierre Stutz seine Gäste zum Filmabend willkommen. Seine Augen strahlen. Der Saal im Kulturzentrum Lagerhalle in Osnabrück ist mit 200 Besuchern fast voll besetzt. Der gebürtige Schweizer, 71 Jahre alt, Nickelbrille, weißgraue verstrubbelte Haare, in Jeans und Wollpullover, durchmisst mit kurzen Schritten den Bühnenraum. "Filme führen mich in ferne Länder und lassen mich in großem Respekt die Vielfalt des Lebens erkennen", doziert er mit breitem Schweizer Akzent.
Der Autor von mehr als 40 christlich-spirituellen Büchern nimmt das Publikum mit in die Filmwelt, eine seiner Leidenschaften. Viermal pro Jahr stellt der schwule Ex-Priester, der seit sechs Jahren in Osnabrück lebt, Produktionen vor, in denen er spirituelle Spuren entdeckt. Für ihn heißt Spiritualität: "Das Leben aus einer anderen Perspektive anschauen." Aber auch: "Das eigene Denken und Fühlen miteinander in Einklang zu bringen." Und: "Für sich selbst sorgen."
In der Spiritualität finde er Ruhe und Kraft, um mit Jesus jeden Tag das Gute zu suchen, sagt der katholische Theologe später in einem Osnabrücker Restaurant. "Dafür gehe ich in den Wald, dafür meditiere oder tanze ich, dafür gehe ich in die Kirche oder ins Kino."
Für sich selbst zu sorgen, war Pierre Stutz indes nicht in die Wiege gelegt. Auch wenn er als spiritueller Lehrer Menschen half, sich als Geschenk Gottes anzunehmen, versagte er sich selbst diesen Dienst. Der schwule Priester konnte sich lange Zeit selbst nicht lieben. Stattdessen arbeitete er bis zur Erschöpfung.
Den inneren Krieg stoppen
Mehr als 40 Jahre lang hat er seine Homosexualität verschwiegen. "Ich war erfolgreich, meine Vorträge waren immer ausgebucht, meine Bücher sind in sechs Sprachen übersetzt", erzählt der Theologe. Auch seinen Traum vom offenen Kloster für Männer, Frauen und Familien hat er verwirklicht. "Da habe ich gedacht, ich hab's geschafft. Die Schmach, zu sagen, ich bin homosexuell, bleibt mir erspart."
Doch Körper und Seele machten nicht mit. Er wurde krank. Als der Leidensdruck unermesslich schien, wagte er schließlich im Jahr 2001 zunächst sein privates Coming-out: "Die Geburtsstunde ist da", schreibt Stutz in seiner Autobiografie "Wie ich der wurde, den ich mag." Und weiter: "Ich will diesen inneren Krieg gegen mich stoppen. Ich will den anderen mitteilen, dass ich einen Mann lieben möchte - und von einem Mann geliebt werden möchte."
Gegen Ausgrenzung, für Gleichberechtigung
2002 verkündete der katholische Theologe sein Schwulsein auf einer Pressekonferenz und legte sein Priesteramt nieder. 2003 lernte er seinen heutigen Mann kennen. 16 Jahre führten sie eine Fernbeziehung, 2018 zog Pierre Stutz zu seinem Partner nach Osnabrück.
Stutz ermutigt Menschen, zu sich zu stehen. Er ist Teil der Initiative "Out in Church", die sich für queere Menschen in der katholischen Kirche engagiert. Er kämpft leidenschaftlich für Veränderungen in seiner Kirche, für eine Sexualmoral, die queere Menschen nicht ausschließt, für die Gleichberechtigung von Frauen.
Auch darüber hinaus setzt der Theologe sich gegen jegliche Form von Ausgrenzung ein, engagiert sich in der Flüchtlingshilfe. "Denn Spiritualität bedeutet nicht, sich ins Private zurückzuziehen und in seiner Wohlfühl-Kuschelecke zu verharren." Das wäre ein Widerspruch zum Leben Jesu, der sich den Aussätzigen, den Frauen und anderen Volksgruppen zugewandt habe.
Seine Augen leuchten, wenn er von "meinem Lebensfreund aus Nazareth" spricht. Er sagt, er sei leidenschaftlich gerne Christ und spüre die Nähe Gottes - gerade in diesen dunklen, kriegerischen Zeiten, in Erwartung auf das Weihnachtsfest. Auch Jesus sei in einen Unrechtsstaat hinein geboren worden: "Gott wird nicht Mensch, wenn alles gut ist."
Heute vergisst Pierre Stutz nicht, auch gut für sich selbst zu sorgen. Sein Schwulsein sieht er als ein Geschenk und eine Begabung. "Spät habe ich mir erlaubt, auch mich selbst zu lieben", schreibt er in einem Gedicht am Ende seiner Autobiografie. Und weiter: "Es ist nie zu spät, sich zu versöhnen mit seinem Weg."