Manchmal ist eine erfundene Geschichte so bizarr, dass sie einfach wahr sein muss: "Kommt ein Vogel geflogen" handelt von einem kleinen Mädchen, das wegen seiner Stotterei im Kindergarten gehänselt und ausgegrenzt wird. Kein Wunder, dass Sarah lieber ihre Mutter zur Arbeit begleitet. Birgit Singer leitet ein Tierheim, dessen Zukunft jedoch auf der Kippe steht: Geht es nach den Plänen des amtierenden Bürgermeisters, soll das Tierasyl einem Kurhotel weichen. Weil die nächste Wahl bevorsteht, machen die anderen Parteien den drohenden Abriss zum Wahlkampfthema; und Birgit steckt mittendrin.
Ausgerechnet jetzt kommt ein Störenfried ins Spiel, der die politischen Auseinandersetzungen beflügelt und den Zusammenhalt von Familie Singer vor eine ultimative Zerreißprobe stellt: Zum Nachlass eines Verstorbenen gehört unter anderem ein sprachbegabter Ara. Der Vogel könnte zum Star des Wahlkampfs werden und das Tierheim retten, aber er ist alles andere als gesellschaftsfähig: Papagei Marlene gibt ständig nationalsozialistische Parolen von sich.
Das satirische Potenzial ist offenkundig, und tatsächlich hat der Film durchaus heitere Momente, aber Stefanie Fies (Buch) und Christian Werner (Regie) betonen vor allem die dramatische Seite: Sarah, von der kleinen Pola Friedrichs inklusive des Stotterns sehr natürlich verkörpert, schließt umgehend Freundschaft mit dem Tier. Dass Marlene, wie ihre Mutter (Britta Hammelstein) es formuliert, dauernd "schlimme Sachen" sagt, ist ihr ziemlich egal.
Birgit wiederum beobachtet mit Erstaunen, wie gut der Vogel Sarah tut: Dank ihrer Plaudereien mit dem Papagei, dem sie neue Wörter beibringt, macht das Mädchen erkennbare Fortschritte. Weil aber die Besten nicht in Frieden leben können, wenn’s einem bösen Nachbarn (Holger Stockhaus) nicht gefällt, wird alsbald publik, wen die Singers da beherbergen.
Schon allein dieser Teil der Geschichte wäre abendfüllend, aber Stefanie Fies setzt in ihrem ersten Langfilmdrehbuch nach einigen Episoden für die ZDF-Serie "Letzte Spur Berlin" noch eins drauf: Birgits Mann Nathan (Hans Löw) ist Jude. Er praktiziert seinen Glauben zwar nicht, doch nun kommen seine Eltern zu Besuch. Vater Eli (Michael Wittenborn) ist ein ausgesprochen entspannter Typ, aber Mutter Mirjam (Ulrike Krumbiegel) vermutet hinter jeder missverständlichen Äußerung Antisemitismus; Marlene muss also weg.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Versuch, den Vogel im Wald auszusetzen, scheitert jedoch; und eine finale Lösung bringt Birgit nicht übers Herz, zumal der Ara selbstverständlich unter Artenschutz steht. Derweil nimmt die politische Auseinandersetzung immer kuriosere Züge an: Als die lokalen Medien auf die Story aufmerksam werden, gelten die Singers plötzlich als Neonazis. Prompt gibt es bis hin zum Fackelaufmarsch vor ihrer Haustür Solidaritätsbekundungen von einer Seite, mit der sie nun wirklich nichts zu tun haben wollen.
Es ist ohnehin beeindruckend, wie viele Facetten Fies dem eigentlich überschaubaren Handlungskern abgewinnt, zumal es zwischen Birgit und Nathan zu einer veritablen Ehekrise kommt. Dass sie ihr Studium abgebrochen hat, damit er promovieren kann, wird dabei auch zum Thema. Für zusätzliche Spannungen sorgt die übergriffige Mirjam, die Sarah für "zurückgeblieben" hält. Obwohl sich die Geschichte in eine zunehmend düstere Richtung entwickelt, ist "Kommt ein Vogel geflogen" immer wieder witzig. Dafür sorgt nicht nur das unsägliche Geschwätz des Papageis, sondern auch Nathans ironisch überspitzte Mutter mit ihrem "jüdischen Getue", wie ihr Mann das mal bezeichnet.
Gerade mit den Entwürfen von Mirjam und Marlene begeben sich Fies und Werner natürlich auf dünnes Eis, zumal der Nazi-Ara ein Fall für den Verfassungsschutz ist. Tatsächlich landet der Vogel schließlich vor Gericht; mit der entsprechenden Urteilsverkündung beginnt der Film auch. Die folgenden hundert Minuten schildern, was sich in den vier Wochen zuvor zugetragen hat. Die Ereignisse eskalieren vollends, als die Polizei das Haus stürmt. Jetzt droht dem Paar auch noch der Verlust der Tochter, weil eine Frau vom Jugendamt der Meinung ist, Sarah sei in einem Heim womöglich besser aufgehoben-
Das Drumherum hat sich die Autorin ausgedacht, aber das Detail mit dem Papagei, der im unverkennbaren Tonfall Adolf Hitlers "Sieg Heil" ruft, ist authentisch: Der Vogel kam in ein bayerisches Tierheim und durfte wegen des drohenden Straftatbestands der Volksverhetzung nicht vermittelt werden; das wäre das gleiche, wie Birgits Anwaltfreund (Anton von Lucke) erklärt, als ob man einen verbotenen Tonträger verbreiten würde.