Frankfurt a.M. (epd). Der Konfliktforscher Jonas Driedger hält eine Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine als Folge der Lieferung von US-amerikanischen Raketen vom Typ ATACMS für unwahrscheinlich. Russland habe bereits zuvor den Krieg durch massive Angriffe auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine eskaliert, sagte der wissenschaftliche Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) in Frankfurt am Main dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch die Bekanntgabe einer Änderung der russischen Doktrin zum Einsatz von Atomwaffen sei mit ihren vagen Formulierungen wohl eher als „Bluff“ anzusehen.
Die russische Regierung habe bereits im September gedroht, dass die Ausrüstung der Ukraine mit konventionellen Raketen eine atomare Antwort Russlands nach sich ziehen könne. Der Zweck sei der Versuch gewesen, westliche Staaten von der Lieferung von Raketen abzuhalten, sagte Driedger. Faktisch würde sich die russische Politik wahrscheinlich nicht ändern.
Die ATACMS-Raketen, deren Reichweite mit ungefähr 300 Kilometer angegeben wird, werden nach den Worten des Konfliktforschers den Krieg nicht entscheiden. Aber in einem Teilbereich könnten die Distanzwaffen die Benachteiligung der Ukraine aufheben: Bisher könne Russland aus der Tiefe des eigenen Landes ungestört die Ukraine beschießen und die eigene militärische Infrastruktur gut schützen. Die Ukraine habe bisher nicht die Waffen gehabt, um effektiv entsprechende Gegenschläge ausführen. Allerdings verfüge die Ukraine nur über eine begrenzte Zahl der ATACMS-Raketen.
Driedger machte darauf aufmerksam, dass die russische Regierung offenbar eine „Schmerzgrenze der Bevölkerung“ bei Fortsetzung des Krieges fürchtet. Wenn Russland eine militärische Weltmacht wäre, die ihre Interessen durchsetzen könne, wie die Regierung behaupte, würde sie nicht ein Bündnis mit dem international geächteten Nordkorea eingehen. Der Einsatz von Hilfstruppen dieses „viertklassigen Staates“ zeige, dass das russische Regime angesichts der hohen Zahl gefallener Soldaten um die Unterstützung der Bevölkerung auf lange Sicht fürchte.
Die Aussicht auf einen nachhaltigen Waffenstillstand sei sehr ungewiss, sagte Driedger. Verhandlungen werde es erst geben, wenn beide Seiten den Eindruck gewönnen, dass die Fortsetzung des Krieges ihnen mehr schadet als nützt. Das russische Regime habe viel in den Angriffskrieg investiert, fünf ukrainische Teilregionen zu seinem Staatsgebiet erklärt und wolle keinen Rückzug. Die Ukraine wolle weiterhin ihr Land verteidigen und die besetzten Gebiete zurückhaben.