Tanja Stünckel sprach mit Prof. Daniel Godoy, der Rektor der Comunidad Teológica Evangélica de Chile und bereits seit 60 Jahren im Dienst für die evangelischen Christ:innen Chiles ist.
Tanja Stünckel: Chile ist ein weitgehend christliches Land. Etwa 70 Prozent der Bevölkerung sind katholisch. Welche Rolle spielen christliche Feiertage in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit in Chile?
Daniel Godoy: Chile ist traditionell ein katholisches Land mit einer Mehrheit, die dem katholischen Glauben anhängt. Dies spiegelt sich in der Geschichte des Landes zu verschiedenen Zeiten wider, unter anderem in den Verfassungsurkunden, die bis 1925 die römisch-katholische Religion als offizielle Religion des Landes anerkannten.
Die Verfassung von 1925 vollzog die Trennung von Kirche und Staat und Chile hat seitdem keine offizielle Staatsreligion mehr. Die katholische Kirche behielt jedoch ihre Vormachtstellung gegenüber anderen Religionen und Glaubensrichtungen. Daher ist es wichtig zu schauen, was in den letzten Jahrzehnten in Bezug auf die Religionszugehörigkeit im Land geschehen ist.
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Die Katholische Universität von Chile führte anlässlich der nationalen Zweihundertjahrfeier eine Umfrage durch und kam zu erstaunlichen Ergebnissen. So erhoben sie, dass der Prozentsatz der Personen, die sich zur katholischen Konfession bekennen, von 70 Prozent im Jahr 2006 auf 45 Prozent im Jahr 2019 gesunken ist. Die Variable, die den Prozentsatz der Befragten angibt, die sich zu einer evangelischen Konfession bekennen, ist zwischen 2006 und 2019 auf 18 Prozent gestiegen. Auch wenn es keine offiziellen Zahlen gibt, so wird doch von einem Anteil von bis zu 20 Prozent evangelikaler Christ:innen im Land gesprochen.
Bei so einer steigenden Anzahl von Protestant:innen, wird da der Reformationstag auf irgendeine Weise in Chile öffentlich gefeiert?
Daniel Godoy: Der Reformationstag ist ein Fest, das vor allem im deutschsprachigen Europa wichtig ist. Wir feiern in Chile zwar nicht direkt den Reformationstag, aber in mancher Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten. In Chile haben wir im Oktober verschiedene Aktivitäten in Verbindung mit dem 31. Oktober, dem Nationalen Tag der evangelischen und protestantischen Kirchen.
Wie wird das, was in Deutschland und Österreich der Reformationstag ist, in Chile in den christlichen Gemeinden oder von den Christ:innen selbst gefeiert? Gibt es besondere Gottesdienste, Rituale oder ähnliches?
Daniel Godoy: Wir feiern in Gedenken an den Reformationstag. Neben anderen Veranstaltungen und Gottesdiensten findet auch eine offizielle Zeremonie in Anwesenheit des Präsidenten, von Minister:innen und Vertreter:innen der evangelischen Kirchen, sozialer Organisationen und anderen im Regierungspalast statt.
Auch auf lokaler, konfessioneller und anderer Ebene gibt es Gottesdienste, Sonderprogramme, Ausstellungen, Vorträge und viele andere Veranstaltungen zur Feier der Reformation.
Im Allgemeinen werden zu diesem Anlass vor allem Gottesdienste beziehungsweise Liturgien gefeiert. Gelegentlich zeigt das Fernsehen einen Film über Martin Luther, etwas über die Reformation oder andere Ereignisse im Zusammenhang mit dem Datum.
Manche Menschen besuchen zum Beispiel die Stadt Valparaíso, wo der erste Dissidentenfriedhof existierte, und den Hügel Santa Lucía, an dessen Hängen die protestantischen Toten heimlich, nachts und ohne Sarg bestattet wurden. In Santiago wird auch der Patio de los Disidentes auf dem Generalfriedhof besucht, der immer noch unter diesem Namen bekannt ist und auf dem die Leichen früher Führungspersonen der chilenischen evangelischen Protestant:innen begraben sind.
An diesem Tag, im Oktober, wird eine Art Gedenkveranstaltung durchgeführt, die mit Luther beginnt und bis in die Gegenwart reicht, wobei Menschen, Geschichten, Momente, Errungenschaften usw. in den Mittelpunkt gerückt werden.
evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.
Hintergrundwissen zu den Errungenschaften der Evangelischen Kirche(n) in Chile:
Im Jahr 2008 wurde der 31. Oktober zum gesetzlichen Feiertag erklärt und zum Nationalen Tag der evangelischen und protestantischen Kirchen in Chile ernannt.
Zwischen 1883 und 1884 wurden unter der Präsidentschaft von Domingo Santa María die so genannten "weltlichen" Gesetze geschaffen. In der Folge wurde ein konfessionsunabhängiges Standesamt eingerichtet, um Geburten, Sterbefälle, Personenstand, Eheschließungen und auch öffentliche Friedhöfe zu registrieren. Mit diesem Schritt wurde der katholischen Kirche die Kontrolle und Herrschaft über diese Angelegenheiten entzogen. Seitdem sind auch die Friedhöfe konfessionslos. Die Verstorbenen werden auf öffentlichen Friedhöfen beigesetzt. Private oder religiöse Orte dürfen nicht mehr für diesen Zweck genutzt werden.
Im Jahr 1884 wurde gesetzlich die Zivilehe eingeführt, was bedeutete, dass die katholische Kirche keine Eheschließungen mehr durchführen konnte. Seitdem führt der Staat die Eheschließung durch, und die Konfessionen bieten den Segen und die Zeremonie an.