Weiße Flügel, mehr braucht es manchmal nicht, um ein Produkt anzupreisen - sei es einen Brotaufstrich oder eine Schachtel Zigaretten. Menschen im Engelskostüm werben so für das, was in den Supermarktregalen steht. "Es geht in der Werbung immer darum, Aufmerksamkeit der Lesenden oder der Zuschauenden zu gewinnen", sagt Jörg Herrmann, Privatdozent am Institut für Praktische Theologie in Hamburg und Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche. "Und das funktioniert am besten durch Verfremdung, durch Kontraste, Irritation - bis hin zum Tabubruch."
Für einen Tabu-Bruch sorgte im Frühjahr das Münchner Finanzunternehmen Scalable Capital. "Deine Villa geschehe, auch ohne Vater im Himmel", prangte in großen Lettern auf schwarzen Plakaten in Deutschlands Großstädten. "Da wird mit einer Zeile des Vaterunsers gespielt. 'Nicht Dein Wille geschehe', sondern 'Deine Villa geschehe'. Und nicht 'Wie im Himmel, so auf Erden', sondern 'auch ohne Vater im Himmel'." Es würden Formulierungen des Vaterunsers verfremdet und für einen Werbespruch instrumentalisiert - "eine Provokation", sagt Herrmann.
Ob Mönche, Engel oder das Vaterunser - religiöse Bilder und Texte seien tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis, sagte der Theologe. "Wenn man so etwas verwendet, dann erzeugt das bei den Rezipienten eben auch ein Gefühl von Vertrautheit, Bekanntheit. Es gibt eine Anknüpfung, eine Art Andocken an ein gemeinsames Symbol." Immer wieder werben besonders Finanzunternehmen oder Versicherungen mit religiösen Anspielungen. "Hier geht es ja auch Absicherung, um eine existenzielle Sicherheit", sagt Herrmann. Und: "Um Themen und Fragen nach Schutz und Bewahrung, die auch in den Religionen eine zentrale Rolle spielen."
Religiöse Themen können Menschen erreichen, aber auch ihre Gefühle verletzten. Das reicht bis zur Blasphemie, der Gotteslästerung. Die Werbebranche hat seit mehr als 50 Jahren ein Gremium, um sich selbst zu regulieren: Den Deutschen Werberat. Dieser überprüft alle Beschwerden und bittet, falls er Handlungsbedarf sieht, die jeweiligen Unternehmen um Stellungnahme. Häufig werden Anzeigen daraufhin zurückgezogen. Der Rat hat eine Durchsetzungsquote von 94 Prozent. Nur in Ausnahmefällen wird eine öffentliche Rüge ausgesprochen.
Werbung kann religiöse Gefühle verletzen
Hinsichtlich der Verletzung religiöser Gefühle war dies zuletzt 2003, teilte der Werberat mit Sitz in Berlin mit. Damals hatte eine Destillerie "Dr. Gerald Rauch GmbH" auf Postkarten mit einem umgedichteten Vaterunser auf sich aufmerksam gemacht: "mein Rausch komme/dein Wille geschehe/wie zuhause als auch in der Kneipe". Im selben Jahr gab es insgesamt 16 Beschwerdefälle aufgrund der Verletzung religiöser Gefühle. 20 Jahre später waren es fünf. "Es werden vergleichsweise wenige Beschwerden an den Werberat gerichtet", in denen es sich um religiöse Aspekte handelt", sagt Unternehmenssprecher Sebastian Lambeck.
Scalable Capitel musste für seine an das Vaterunser angelehnte Kampagne vor dem Werberat Stellungnahme beziehen. "Im Zuge dieses Dialogs sicherte der Werbetreibende zu, dass das von den Beschwerdeführern als religiös verletzend angesehene Motiv nicht mehr verwendet wird", so die Selbstkontrolleinrichtung.
Nicht nur mit dem Vaterunser, auch mit einer biblischen Erzählung, in der es um die Versuchung geht, spielt die Werbung häufig mit der Schöpfungsgeschichte. Adam und Eva werden spärlich bekleidet in einem Supermarkt gezeigt oder sie essen, dank einer Schlange Schokolade. "Dann ist gewissermaßen die Werbung in der Rolle der Schlange, die sagt: Wenn ihr von diesem Apfel esst, dann werdet ihr klug werden, dann werdet ihr sein wie Gott", sagt Akademie-Direktor Herrmann.
Dass Werbung mit ihrer verlockenden Produktwelt eine Ersatzreligion ist, sieht Herrmann jedoch nicht. "Werbung ist letzten Endes nichts Ernstes. Und Religion hat eben diesen Anspruch, dass es um den Ernst des Lebens geht." Da gehe es um Fragen von Herkunft, von Zukunft, von Endlichkeit, von Schuld, von Gut und Böse. Herrmann: "Und das kann einfach Werbung nicht ersetzen."