Oberursel (epd). Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hält die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen nicht für das Ergebnis einer Protestwahl. Menschen hätten die AfD aus Überzeugung gewählt, schreibt Thierse in einem Gastbeitrag für das im hessischen Oberursel erscheinende Magazin „Publik-Forum“ (Ausgabe 13. September). Thierse ist Mitherausgeber des Magazins.
Man dürfe nicht vergessen, dass Minderheitenfeindlichkeit, Antisemitismus und Demokratieverachtung immer Teil ostdeutschen Lebens und Empfindens gewesen seien, schon zu DDR-Zeiten, schreibt Thierse. Er sei in den Monaten vor der Wahl in Thüringen unterwegs gewesen und sei erschrocken über das Ausmaß der Wut gegen „die da oben“ und des Hasses gegen demokratische Politiker und Institutionen. Meinungsumfragen belegten eine wachsende Zustimmung zu Gewalt.
Zudem haben Thierse zufolge viele Ostdeutsche eine andere Vorstellung von Demokratie als Westler: „Sie wollen weniger Parteiendemokratie - mit ihrem Regelwerk und Institutionengefüge und ihren zeitraubenden Entscheidungsprozessen -, sondern eine direktere Demokratie. Der Volkswille soll vollzogen werden, statt quälendem Streit soll es die umweglose Durchsetzung der Mehrheitswünsche geben.“ Zusätzlich treffe im Osten die gegenwärtige Veränderungsdramatik „auf Menschen, die die dramatischen Veränderungen seit 1989/1990 mit Schmerzen und Verlusten noch nicht gänzlich und vor allem nicht gleichermaßen erfolgreich bestanden haben“.
Diese Demokratievorstellung sei eine Herausforderung für das Parteiensystem. „Es muss keine Wunder bewirken, aber soll gute Politik machen“, fordert Thierse. Als vorrangige Anliegen der Menschen im Osten nennt er den Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrs und der Gesundheitsversorgung auf dem Land, den Wegfall der vertrauten Arbeitsplätze sowie die nach wie vor bestehenden West-Ost-Differenzen bei Einkommen und Vermögen und bei der Wirtschaftskraft.