Steinmeier: "Inhumanität beginnt im Denken"

Steinmeier: "Inhumanität beginnt im Denken"
Seit zehn Jahren erinnert eine Gedenkstätte in Berlin an die Morde der Nazis an kranken und behinderten Menschen. Bei einem Festakt zum Geburtstag des Orts warnte Bundespräsident Steinmeier vor neuer Stigmatisierung.

Berlin (epd). Mit einem Festakt ist am Montag in Berlin der zehnte Jahrestag des Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde gewürdigt worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte, es habe „viel zu lange“ gedauert, bis ein Ort zur Erinnerung an die Opfer der Ermordung behinderter und kranker Menschen durch die Nationalsozialisten gestaltet wurde. Der Bundespräsident warnte in seiner Rede zudem vor neuer Stigmatisierung und Ausgrenzung.

„Inhumanität beginnt im Denken“, sagte Steinmeier beim Festakt zum zehnjährigen Bestehen des am Montag in Berlin. Sie setze sich in der Sprache fort und führe zu verbrecherischen Taten, sagte er. „Wenn heute zum Beispiel Kinder, die mit einer Beeinträchtigung durchs Leben gehen, wieder als 'Belastung' für unsere Gesellschaft und für andere Jugendliche stigmatisiert werden, dann sagen wir: Alle Kinder haben einen Anspruch auf bestmögliche Entwicklungsmöglichkeiten“, sagte Steinmeier. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke, dessen Partei am Sonntag die meisten Stimmen bei der Landtagswahl in Thüringen erhielt, hatte im vergangenen Jahr für Empörung mit einem Interview gesorgt, in dem er die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen infrage stellte.

Jede und jeder solle die Möglichkeit haben, das Beste aus sich zu machen, sagte Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung. Man dürfe nicht vergessen, was immer drohe, „wenn wir anfangen zu fragen und zu differenzieren, welches menschliche Leben denn lebenswert ist“. „Dann stehen Leben und Freiheit zur Disposition und sind fremder Verfügungsgewalt ausgesetzt“, mahnte er.

Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sagte, es müsse Menschen laut werden lassen, „wenn die unantastbare Würde auch nur eines einzelnen Menschen mit Füßen getreten wird“. Mehr denn je brauche es Erinnerungsorte und Menschen, die ihre Herzen für Mitmenschen öffneten, sagte er mit Blick auf „aktuelle Entwicklungen“, ohne die Wahlerfolge der AfD konkret zu nennen.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, beklagte, dass die Opfer der „Euthanasie“-Morde nicht heute offiziell als Verfolgte des Nazi-Regimes anerkannt seien. Er wünsche sich, dass der Bundestag dies bald nachhole, sagte er.

Der Gedenk- und Informationsort T4 erinnert seit 2014 an die Aktion T4 der Nazis, bei der mehr als 70.000 geistig und körperlich eingeschränkte Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten ermordet wurden. Mit einem auf den 1. September 1939, den Tag des deutschen Angriffs auf Polen, zurückdatierten Schreiben hatte Hitler die Ermordung von mehr als 70.000 Menschen unter anderem mit psychischer Erkrankung oder Behinderung veranlasst.

Neben dem „Krieg nach außen“ habe mit dem 1. September 1939 auch ein „Krieg nach innen“ begonnen, sagte der Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Uwe Neumärker. Die unter dem Kürzel „T4“ bekanntgewordene Aktion - benannt nach der Adresse der Planungszentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin - fand zwischen Januar 1940 und August 1941 in sechs verschiedenen Gasmordanstalten statt. Insgesamt wurden laut Historikern in Einrichtungen des Deutschen Reichs 200.000 Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen in verdeckten Aktionen ermordet.