Fachleute werben für mehr vorbeugende Arbeit gegen Radikalisierung

Fachleute werben für mehr vorbeugende Arbeit gegen Radikalisierung
Der Anschlag von Solingen sorgt für eine Debatte über islamistische Radikalisierung. Experten sprechen sich für mehr Präventions- und Beziehungsarbeit aus. Politikerinnen werben für eine stärkere Rolle des Islam-Unterrichts.

Köln (epd). Nach dem Anschlag von Solingen empfehlen Fachleute mehr Vorbeugung, um eine islamistische Radikalisierung zu verhindern. Besonders gefährdet seien Menschen am Rande der Gesellschaft und junge Menschen, die sich ausgegrenzt fühlten, sagte die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft gegen religiös begründeten Extremismus, Friederike Müller, am Donnerstag dem Radiosender WDR5. Der Islamwissenschaftler Yunus Yaldiz warb im Deutschlandfunk für eine Stärkung der Sicherheitsbehörden sowie mehr Stabilität und Kontinuität in der Präventionsarbeit.

Sozialarbeiterin Müller forderte, bei Radikalisierung stärker auf die individuellen Ursachen zu schauen. Menschen würden sich „nicht mal eben“ radikalisieren. Es seien gezielte und ganz unterschiedliche Ansätze nötig, um Menschen zurückzugewinnen. Die Arbeit mit radikalisierten Personen sei immer sehr arbeits- und zeitintensiv. Wichtig sei dabei, dass „jemand gesellschaftlich wieder eingebunden wird“.

Der Extremismus-Experte Yaldiz schlug unter anderem vor, Sozialarbeiter fortzubilden, die mit diesen Menschen arbeiteten. Dass sich der mutmaßliche Täter von Solingen radikalisiert haben könnte, sei sicher der Grund für den Anschlag. Es gebe aber viele weitere Gründe, die mit so einer Geschichte einhergingen. „Wenn dieser junge Mann zurückgegangen wäre nach Syrien, wäre er vermutlich ins Militär eingezogen worden“, sagte Yaldiz. Wenn man die ganze Mischung und Perspektivlosigkeit mitdenke, „kann es zu einer Radikalisierung kommen, wenn man sich von der Gesellschaft verlassen fühlt“.

Islamistische Radikalisierung zeigt sich dem Pädagogen Burak Yilmaz zufolge unter anderem daran, dass Menschen ihren Kleidungsstil und ihre Sprache veränderten. Sie sprächen ständig vom Jenseits, erklärte der Autor, der mit Jugendlichen zum Thema Islamismus arbeitet, im „Morgenecho“ auf WDR5. Zudem versuchten sie andere Menschen zu missionieren.

Die sozialen Medien spielen laut Yilmaz „eine enorme Rolle“ bei der Radikalisierung von Menschen. Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober habe islamistische Propaganda bei TikTok und Instagram „Hochkonjunktur“. Islamistische Prediger hätten ein Angebot geschaffen, wo junge Menschen über ihre Verzweiflung und Verunsicherung etwa mit Blick auf den Krieg im Gazastreifen sprechen könnten. Die charismatisch und rhetorisch versierten Prediger böten ihnen simple Welterklärungen an. Sie sprächen die Themen der Jugendlichen an, lieferten ihnen Videos in „High-End-Quality“ und bauten Beziehungen zu ihnen auf.

Die frühere NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU) sagte dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (Donnerstag), dass im Religionsunterricht der Umgang mit sozialen Medien eine wichtige Rolle einnehmen müsse. Der Islam-Unterricht an deutschen Schulen unter deutscher Schulaufsicht könne eine Hilfe sein, junge Menschen besser aufzuklären.

Für eine Ausweitung des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen warb die innenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Lamya Kaddor, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk. „Ziel und Zweck eines Religionsunterrichts ist es, Kinder und Jugendliche zu religiös mündigen Menschen zu erziehen“, sagte Kaddor.

Bei den Feiern zum 650. Solinger Stadtjubiläum hatte am vergangenen Freitag ein Mann mit einem Messer drei Menschen getötet und acht verletzt. Der mutmaßliche Attentäter Issa Al H. wurde am Samstagabend festgenommen und sitzt in Untersuchungshaft. Dem 26-jährigen Syrer werden unter anderem dreifacher Mord und die Mitgliedschaft in der islamistischen Terrororganisation IS vorgeworfen.