Der Banker auf der Kanzel

Prädikant Martin Schulte im Talar am Lesepult während eines Gottesdienstes in der Trierer Konstantin-Basilika
Robert Herschler
Auch beim Predigen ist Martin Schulte in seinem Element.
Serie: Quereinstieg ins Pfarramt
Der Banker auf der Kanzel
Als Investmentbanker war Martin Schulte viele Jahre sehr erfolgreich. Die Coronakrise brachte für ihn den Wechsel. Heute studiert er Theologie und hat eine neue berufliche Aufgabe in der Kirchengemeinde Trier.

Als Banker hat Martin Schulte Milliardenbeträge bewegt. Liquiditätssteuerung, Refinanzierung oder Alternative Investmentfonds bestimmten den beruflichen Alltag fast drei Jahrzehnte lang. Heute führt er Seelsorgegespräche, predigt und steht am Altar der eindrucksvollen Konstantin-Basilika in Trier. "Meine Karriere ist zu Ende", sagt der 59-Jährige über sich selbst. "Heute mache ich das, was mich wirklich erfüllt."

In seinem Leben als Finanzprofi und Anlagespezialist war Schulte sehr erfolgreich, arbeitete sich in Geschäftsführungs- und Vorstandspositionen vor. Und auch die dunklen Seiten, die Hybris der Finanzindustrie hat er aus der Nähe erlebt, als er bei der Hypo Real Estate anheuerte - jenem Institut, das zum Symbol für die Bankenkrise in den späten Nullerjahren wurde. Über die undurchsichtige und ständig wechselnde Geschäftsstrategie habe er sich mit dem berüchtigten Vorstandschef Georg Funke häufig auseinandergesetzt.

Im Mai 2008 verlässt Schulte das Unternehmen – gerade noch rechtzeitig vor dem großen Knall. Er arbeitet auch als selbständiger Berater und zuletzt für eine Investmentbank in Luxemburg, betreut Infrastrukturfonds, die in Klimaschutz und erneuerbare Energien anlegen.

"Der Job machte zwar Spaß – aber keinen Sinn mehr." Das wird ihm zu Beginn der Corona-Pandemie bewusst. Als einer von zwei Vorständen muss er vor Ort sein. Er fährt täglich über die Landesgrenze, unterzieht sich den wieder eingeführten Grenzkontrollen und landet in einem leeren Bürohaus, um dort über Anlagestrategien, Bilanzen und Regularien zu brüten. "Wir haben weitergearbeitet, und um uns herum blieb die Welt stehen – einfach bizarr", erinnert sich Schulte. "Mir war klar: ich muss was anderes machen."

Arbeiten im Team

Der Banker sitzt zu diesem Zeitpunkt schon jahrelang im Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Trier und ist seit 2017 auch als Prädikant unterwegs. Das kommt ihm bei der beruflichen Neuorientierung nun zupass.

Nach Gesprächen mit dem Superintendenten und Zuständigen in der Landeskirche öffnet sich für Schulte eine berufliche Perspektive in der Gemeinde: Im Gemeinsamen Pastoralen Amt (GPA) hat die Evangelische Kirche in Rheinland schon 2005 die Möglichkeit geschaffen, dass Menschen aus anderen Berufen mit Pfarrer:innen in einem Team gleichberechtigt zusammenarbeiten. In der Regel sind das Diakone oder Gemeindepädagoginnen.

Dass ein studierter Betriebswirt wie Martin Schulte diesen Weg einschlägt, ist ungewöhnlich. Doch nach ein paar weiteren Schleifen durch die Gremien ist der Deal perfekt: im Juli 2022 beginnt Schulte mit einer halben Stelle und geht im folgenden Jahr auf Vollzeit.

Hebräisch pauken nach Feierabend

Als ordinierter Prädikant darf er alle Aufgaben wahrnehmen, die ein Pfarrer auch hätte – mit Ausnahme des Konfiunterrichts, weil ihm eine pädagogische Ausbildung fehlt. Neben Seelsorge und Gestaltung von Gottesdiensten kümmert sich Schulte um die Organisation der Gemeinde-Kita und um die Arbeit mit Erwachsenen. Aufgrund einer Pfarrstellenvakanz schließt seine Mitarbeit in der rund 10.000 Mitglieder zählenden Gemeinde eine Lücke.

Doch das ist noch nicht die ganze Geschichte: Schon 2019 hat Schulte begonnen, an der Kirchlichen Hochschule (KiHo) in Wuppertal berufsbegleitend Theologie zu studieren. "Ich hatte schon nach dem Abi damit geliebäugelt", sagt er. Jetzt ist es eine große Herausforderung, der er fast seinen gesamten Urlaub und auch sonst viel freie Zeit opfert. "Ich saß immer mit den Hebräisch-Karteikarten am Frühstückstisch", erinnert er sich an die mühevollen Anfänge. Mehr als einmal dachte er ans Aufgeben, aber hielt dann doch durch – im September will er mit der Masterprüfung abschließen.

Mehr als nur ein Weg

Trotz aller Anstrengung seien die letzten Jahre aber "unglaublich produktiv" gewesen, so Schulte. "Man lernt, anders zu denken", fasst er seine Erfahrungen zusammen. "In der Ökonomie geht es um Effizienz, Kosten und Nutzen, klare Entscheidungen." Das Theologiestudium beinhalte dagegen ganz verschiedene Aspekte – von Literaturwissenschaft über Exegese und Geschichte bis hin zur Sozialwissenschaft. "Man betrachtet einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven."

Das sei für die Praxis unmittelbar von Nutzen – bei der Diskussion um Organisationsprozesse, aber auch beim Seelsorgegespräch: "Wenn ein Mensch mit seinen Anliegen zu mir kommt, ist es gut, wenn ich mehr als nur einen Weg aufzeigen kann." Beim Umgang mit biblischen Texten und Übersetzungen habe er "eine unglaubliche Sensibilität im Hinblick auf die Sprache" entwickelt, sagt Schulte. Auch die Zusammenarbeit mit den Mitstudierenden – "gereifte Persönlichkeiten mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten – einer war sogar Kapitän" – sei sehr bereichernd gewesen.

Dicke Bretter bohren

Doch die Erfahrungen seines früheren Berufslebens hat Martin Schulte natürlich weiter im Gepäck, wenn er sich in der Kirche bewegt und dort auch Veränderungen bewirken kann. Wenn er etwa daran denkt, wie Zahlungsprozesse abliefen – er spricht spöttisch vom "mittelalterlichen Zettelweitwurf". Die habe man inzwischen komplett digitalisiert und spare so eine Menge Zeit.

Umsetzungen in der Kirche dauern häufig sehr lange, seine Ungeduld darüber kann Schulte schlecht verbergen. Da bricht der Manager dann wieder durch, hier möchte er zum Machen animieren und formuliert knackig: "Das Brett bohren wir jetzt, einfach weil wir keine Lust haben, noch ewig weiterzureden."

Wenn dagegen auch etwa an die Gottesdienstvorbereitung ökonomische Kriterien angelegt werden sollen, wie es ihm jüngst der Vikar der Gemeinde berichtet hat, hält er das für absurd. "Da muss ich mich fragen: ist das hier überhaupt ein Kriterium?" Das Ziel sei doch, den Menschen positive Glaubenserlebnisse zu vermitteln. "Da müssen wir dann gucken, wie das zu unseren Ressourcen passt." Ein Change-Problem, wie es auch jedes Unternehmen einmal habe. "Aber man muss den Prozess eben auch theologisch durchdenken."

Glaubenserlebnisse will Martin Schulte natürlich auch selbst in seinen Gottesdiensten vermitteln, deren Vorbereitung für ihn "das Größte" ist. Auch dabei schätzt er Teamarbeit – etwa bei den Aula-Gottesdiensten in einer Schule, die vier Mal jährlich gefeiert werden. "Was wir dort in der Vorbereitung diskutieren, ist enorm bereichernd", sagt Schulte. Und auch die Resonanz bei den Besucher:innen sei da. "Und das freut mich wirklich."