Braunschweig (epd). Der Brüsseler Historiker und Europa-Experte Michael Köhler sieht die Kirchen in der Pflicht, angesichts der Europawahl verstärkt für die europäische Idee von Frieden und Freiheit zu werben. „Europa verkörpert Werte, die zutiefst christlich vorgeprägt sind“, sagte Köhler im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Daher könnten gerade kirchliche Initiativen helfen, das Gefühl von Fremdheit abzubauen, das viele Menschen für Europa empfänden. „Das haben die Kirchen in den vergangenen Jahren eher stiefmütterlich behandelt.“
Als EU-Beamter war Köhler viele Jahre bei der Europäischen Kommission tätig, zuletzt als stellvertretender Generaldirektor für europäischen Zivilschutz und humanitäre Hilfe. Köhler lehrt zudem an mehreren Universitäten in Europa.
Immer wieder komme es zu Entscheidungen auf EU-Ebene, die für Bürger in Deutschland unverständlich seien. „Dabei ist es eigentlich nur logisch, dass bei 27 Mitgliedsstaaten zwar häufig, aber nicht immer Kompromisse gefunden werden können, die genau im Sinne der Mehrheit der Bundesbürger sind“, sagte Köhler. Hinzu komme, dass europäische Richtlinien unterschiedlich in das nationale Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt würden. Dabei würden in Deutschland EU-Richtlinien oft komplizierter gemacht oder schärfer ausgelegt als in anderen Staaten. „Den Menschen wird diese Verschärfung mitsamt der entstehenden Bürokratie dann als Vorgabe aus der EU verkauft.“
Zusätzliche Hürden entstünden durch mangelnde Kenntnis der Strukturen, ergänzte Köhler. „Grundgesetz, Bundestag, Bundesrat - da wächst man als Deutscher irgendwie herein und hat auch ohne vertiefte politikwissenschaftliche Vorbildung ein grobes Gefühl, wie es funktioniert.“ Wenn man die Menschen zur EU-Grundrechtecharta, den Lissabon-Vertrag oder die EU-Institutionen befrage, reagierten viele ratlos. Auch sprachlich ergäben sich Barrieren: „Weil die Arbeitsabläufe in den Brüsseler und Straßburger Amtsstuben in erster Linie auf Englisch und danach Französisch geschehen und viele offizielle Texte erst eine deutsche Übersetzung durchlaufen müssen.“
Dennoch sei es wichtig, die EU zu unterstützen, und sich mit der persönlichen Stimmabgabe am 9. Juni für die Ausrichtung Europas einzusetzen, die man persönlich für richtig halte, betonte Köhler. „Man muss die EU nicht lieben, sollte aber zumindest ihren Nutzen und die Werte, die sie täglich ihren Bürgern garantiert, erkannt haben.“ Wenn rund 350 Millionen wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger aus den 27 EU-Staaten die 720 Abgeordneten für das Europäische Parlament wählten, so sei dies nach Indien und noch vor den USA die zweitgrößte demokratische Wahl weltweit.