Trier (epd). Der Soziologe Michael Jäckel hat mit Blick auf die aktuellen Krisen vor einer zunehmenden Lähmung der Gesellschaft gewarnt. „Fest steht auf jeden Fall, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist“, sagte der Professor für Soziologie an der Universität Trier dem Evangelischen Pressedienst (epd). Aber Angst fordere auch heraus und wecke den Wunsch nach Veränderung. Die schnelle Abfolge von Ereignissen - nach der Corona-Pandemie der Ukraine-Krieg, die Energiekrise oder der Nahostkonflikt - lasse vielen Menschen aber kaum mehr Zeit zum Nachdenken.
Angesichts der vielen Krisenfelder sieht Jäckel den Begriff von einer „dramatisierten Gesellschaft“ gerechtfertigt. Aber es gebe auch Entwicklungen, die Hoffnung machten. Die Menschen wollten sich einbringen, wieder für Kontinuität und Stabilität sorgen, auch wenn vieles widersprüchlich dargestellt oder wahrgenommen wird.
„Es ist doch nicht entscheidend, ob der Begriff Polarisierung oder Spaltung zutreffend ist. Es muss sich so vieles ändern“, sagte Jäckel. Er fügte hinzu, dass er auch „die jetzige Studierendengeneration als eine natürlich fordernde, aber dennoch überwiegend pragmatisch denkende Generation erlebt, die sich diesen Herausforderungen bewusst ist und Probleme aktiv angehen möchte“, betonte der 64-jährige Hochschullehrer.
Auch jene, die sich eher in einer weniger aktiven Beobachterrolle sehen, erkennen laut Jäckel nun, dass mehr als das erforderlich ist. Das werde nicht dauerhaft so sein, aber wenn sich die Herausforderungen zuspitzen und immer unverhohlener auftreten, erweitere sich die Vorstellung von Bürgerpflicht. Jetzt zeige man sich auch auf der Straße, nicht nur in der Wahlkabine, betonte der langjährige frühere Präsident der Universität Trier.
Dennoch sei die Distanz zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten inzwischen teilweise so groß, dass diese weder zueinanderfinden noch argumentativ ein gegenseitiges Wohlwollen und Verständnis erreichen werden oder wollen, so Jäckel: „Hier gibt es kaum noch Brücken, über die man gehen kann.“
Eine Mobilisierung der Bevölkerung „gegen jegliche Form von Extremismus“ sei ein bedeutendes Zeichen. Denn am Ende sei entscheidend, was die Menschen in den vielen Kommunalwahlen, in der Europawahl und in den drei zentralen Landtagswahlen in Deutschland auf ihrem Wahlzettel ankreuzten, sagte Jäckel mit Blick auf eine beunruhigende politische Arithmetik. Etwas mehr Beruhigung in einer Zeit, die wenig Verlässliches bietet und fast nur noch die Zuspitzung von Problemlagen kennt, sehnten viele herbei. Und das sei nicht nur gefühlt, sondern immer häufiger existenziell begründet.
Dieses Aufwachen und Mitwirken sei in der Regel kein Dauerzustand. Bereits der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf (1929-2009) habe den aktiven Teil der Bevölkerung auf nie mehr als fünf bis zehn Prozent eingeschätzt. Jäckel: „Das wird wahrscheinlich heute auch - trotz Social Media - nicht viel mehr sein im Sinne von Personen, die sich kontinuierlich um das Politische kümmern.“
Es komme darauf an, dass Politik für nicht zu viele Menschen zu einer Nebenbühne wird. Ein Rückzug in das Private und gemeinschaftlich Überschaubare, verbunden mit Dauerskepsis an Bildschirmen unterschiedlicher Größe, sei das falsche Signal zur falschen Zeit, mahnte Jäckel: „Eine Zuschauerdemokratie vertraut zu sehr auf das Vergängliche des Spektakels und die Zauberkünste einer unsichtbaren Hand.“