Augsburg (epd). Zwei Jahre nach Veröffentlichung einer Studie über sexuelle Gewalt im katholischen Erzbistum München und Freising bescheinigt der Gutachter Ulrich Wastl der Kirche und dem Freistaat Bayern noch immer erhebliche Defizite im Umgang mit Missbrauchsopfern. Die von der Staatsregierung eingerichtete Anlaufstelle für Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt erfülle nicht im Ansatz ihren nötigen Anspruch, sagte Wastl der „Augsburger Allgemeinen“ (Dienstag). „Um es deutlich zu sagen: Das ist ein Witz“, kritisierte der Rechtsanwalt von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl.
„Mit unserer Empfehlung hat diese Stelle allenfalls ansatzweise etwas zu tun“, erklärte er. „Ich habe den Eindruck, deren Einrichtung war mehr oder weniger dem Landtagswahlkampf geschuldet“, fügte Wastl hinzu.
Wichtig wäre eine gänzlich unabhängige und entsprechend finanziell ausgestattete Stelle, die Betroffene nicht nur umfassend berät, sondern auch deren Interessen vertritt, mahnte der Sachverständige. „Es muss endlich ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Betroffenen und Kirche hergestellt werden“, forderte er.
Wastl warf zudem dem Bistum Augsburg mangelnden Aufklärungswillen im Missbrauchsskandal vor. Er kritisierte, dass die vom Bistum geplante Studie sich einseitig mit den Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf Betroffene befassen solle und nicht mit den mutmaßlichen Tätern oder Vertuschern. „Weitestmöglich vollständige Aufklärung ist die zwingende Basis für Aufarbeitung und vor allem auch Verarbeitung“, betonte er. „Das darf man nicht übergehen. Sonst haben alle anderen Bemühungen kaum einen Wert.“
Wastls Kanzlei stellte im Januar 2022 ein vom Münchner Erzbistum in Auftrag gegebenes Gutachten über Missbrauchsfälle vor, in dem von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern und von einem weit größeren Dunkelfeld die Rede war. Das Münchner Missbrauchsgutachten erregte weltweit Aufmerksamkeit, weil es auch die Rolle des früheren Münchner Erzbischofs Kardinal Joseph Ratzinger und späteren Papstes Benedikt beleuchtete. Die Gutachter warfen Ratzinger Fehlverhalten in vier Fällen vor.