Göttingen (epd). Aus Sicht der Göttinger Protestforscherin Julia Zilles kommt in der Protestaktion gegen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) an einem Fähranleger in Schleswig-Holstein eine generelle Unzufriedenheit mit der Klima- und Agrarpolitik der Ampel-Koalition zum Ausdruck. „Die Streichung der Steuerbegünstigungen beim Agrardiesel ist nur der Anlass. Wenn Proteste derart eskalieren, geht es häufig um viel mehr. Sie werden als Ventil für allgemeinen Frust genutzt“, sagte die Politikwissenschaftlerin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zilles forscht am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Universität Göttingen unter anderem zu Bürgerprotesten im Kontext der Energiewende.
Der ökologische Transformationsprozess betreffe Bäuerinnen und Bauern konkreter als andere gesellschaftliche Gruppen, erläuterte Zilles. Da das Erreichen der Klimaziele einen zunehmenden Zeitdruck erzeuge und da notwendige Maßnahmen viele Jahre verzögert worden seien, stehe der Sektor nun vor einem tiefgreifenden Transformationsprozess, der die gegenwärtigen Strukturen der Landwirtschaft fundamental infrage stelle. „Es gibt daher einige, die den geforderten Wandel im Agrarsektor grundsätzlich ablehnen.“
Überhaupt sei im Politikfeld Klimaschutz insgesamt eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung zu beobachten, sagte Zilles. Diese betreffe auch die Themen Ernährung und Landwirtschaft. So werde etwa die politische Forderung an den Einzelnen, den Fleischkonsum zu reduzieren, schon seit längerem hochemotional debattiert.
Überdies mischen sich nach Zilles' Auffassung in die neuen Gräben zwischen Bundesregierung und Landwirten ältere Konfliktlinien, sogenannte „cleavages“: „In unserer Forschung sehen wir das Verschmelzen von alten und neuen Konfliktlinien, zwischen einem gesellschaftlichen Pol, der eher jung, weiblich, kosmopolitisch und städtisch geprägt ist, und jenem, der eher männlich, älter, ländlich und traditioneller geprägt ist.“ Diese Polarisierung habe sich in den letzten Jahren zugespitzt.
Mit der Blockade der Fähre hätten die Bauernproteste eine neue Eskalationsstufe erreicht. „Dennoch sollten wir hier nicht vorschnell gesellschaftliche Kipppunkte hineininterpretieren“, sagte Zilles. Dass Politiker und insbesondere Politikerinnen persönlich bedroht würden, etwa durch Beleidigungen im Internet bis hin zu Angriffen auf Wahlkreisbüros, sei leider nicht neu. „Für die tiefere soziologische Einordnung der aktuellen Proteste müssen wir abwarten, wie Politik und Gesellschaft auf die Proteste reagieren.“