Leipzig (epd). Der Leipziger Soziologe und Demokratieforscher Johannes Kiess sieht in Teilen Ostdeutschlands Defizite an positiven Demokratieerfahrungen. Andererseits habe sich auch die Vorstellung nicht überall durchgesetzt, dass Demokratie aktiv gelebt werden muss, sagt der stellvertretende Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Kiess betonte, „die Transformationen in der Nachwendezweit“ hätten sowohl den wirtschaftlichen als auch den politischen und sozialen Bereich betroffen. Zudem sei der Institutionenaufbau vielfach durch westdeutsche Eliten übernommen worden: „Eine echte Beteiligung der Menschen gab es nach den Runden Tischen aber schnell nicht mehr.“ In der Fläche fehlten bis heute Verbände- und Parteistrukturen. So seien in Ostdeutschland bei Kommunalwahlen viel häufiger Wählergemeinschaften erfolgreich als in Westdeutschland.
Laut einer Umfrage des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts zu Demokratieeinstellungen halten knapp zwei von drei Ostdeutschen es für sinnlos, sich politisch zu engagieren, und mehr als ein Drittel hat den Eindruck, ihre Rechte als Bürger stünden nur auf dem Papier. Kiess plädierte dafür, auch künftig zivilgesellschaftliches Engagements weiter öffentlich zu fördern. Das sei „unverzichtbar, um zumindest einen Grundstock an bürgerschaftlicher und politischer Teilhabe zu erhalten“.
Das reiche aber nicht aus, „gerade wenn die Menschen tagtäglich im Arbeitsleben das Gegenteil von Demokratie, Anerkennung und Fairness erfahren“. Untersuchungen zeigten, „dass positive Erfahrungen von Mitbestimmung, Anerkennung und Solidarität im Betrieb mit demokratischen Einstellungen zusammenhängen“. Insofern seien die Stärkung der Tarifbindung, faire Löhne und die Einbindung der Menschen in Prozesse, die sie unmittelbar betreffen, auf jeden Fall demokratierelevant, sagte Kiess.