Berlin (epd). Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) hat im vergangenen Jahr 2.480 antisemitische Vorfälle erfasst. Das seien elf Prozent weniger als 2021, sagte Benjamin Steinitz, geschäftsführender Rias-Vorstand am Dienstag in Berlin. Grund für den leichten Rückgang seien fehlende Gelegenheiten wie etwa Proteste gegen Corona-Maßnahmen gewesen.
Zugleich sei die Anzahl von Vorfällen extremer Gewalt im vergangenen Jahr auf neun gestiegen. Dies sei die höchste Anzahl derartiger Fälle seit Beginn der bundesweiten Erfassung 2017. Darunter waren versuchte Brandanschläge auf jüdische Gemeinden in Dortmund und Bochum sowie Schüsse auf ein ehemaliges Rabbinerhaus in Essen.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, betonte bei der Vorstellung des Rias-Jahresberichts, die Situation habe sich nicht entspannt. Die Dokumentation sei ein Gradmesser für die Judenfeindlichkeit im Land. Gegenüber 2020 lag die Zahl der im vergangenen Jahr registrierten antisemitischen Vorfälle immer noch um rund ein Viertel (26 Prozent) höher.
Bianca Loy vom Rias-Bundesverband sagte, jeder fünfte antisemitische Vorfall habe einen verschwörungsideologischen Hintergrund gehabt. Erstmals seien dem rechtsextremen Hintergrund mit 13 Prozent nicht die meisten Vorfälle zugeordnet worden. Rund die Hälfte der Vorfälle (53 Prozent) seien keinem politischen Hintergrund klar zuzuordnen gewesen.
Weiter berichtet Rias über 186 Sachbeschädigungen sowie 56 Angriffe auf Menschen, die als Juden angesehen wurden. Zudem wurden 1.912 Fälle „verletzenden Verhaltens“ wie Äußerungen und Beschmierungen gezählt. Die Zahl antisemitischer Massenmails stieg um knapp ein Drittel (31 Prozent) auf 245 Fälle. Ein Großteil wurde vom Rias in Thüringen registriert. Es habe sich um einen einzigen Absender mit verschwörungsideologischem Hintergrund gehandelt.
Die meisten antisemitischen Vorfälle wurden in Berlin (848) gezählt. Davon ereigneten sich mehr als die Hälfte (483) online. Weitere Schwerpunkte waren Bayern (422), Nordrhein-Westfalen (253) und Thüringen (237).
Klein forderte mit Blick auf die von einem Antisemitismusskandal überschattete Kasseler Kunstschau „documenta fifteen“ mehr Sensibilität im Kulturbetrieb gegenüber israelbezogenem Antisemitismus. Durch die Documenta sei viel Vertrauen in der jüdischen Community zerstört worden. Zugleich mahnte er mehr politische Unterstützung an, wenn es um das Eintreten gegen Judenhass gehe.
Als Zeichen gestiegener Sensibilität gegenüber Antisemitismus sieht Klein die Debatte um die Konzertauftritte des Ex-„Pink Floyd“-Mitglieds Roger Waters. Dem Musiker wurden israelfeindliche und antisemitische Äußerungen vorgeworfen.
Steinitz kritisierte angesichts der Gefährdung durch islamistische und rechtsextreme Akteure weiter bestehende Sicherheits-Defizite für Jüdische Gemeinden. Hier seien die Bundesländer in der Pflicht. Außerdem forderte der RIAS-Geschäftsführer eine gesicherte finanzielle Förderung für seinen Bundesverband und die elf Meldestellen. Bei einigen sei die Finanzierung für das kommende Jahr noch nicht gesichert.