Jurist Singelnstein: Politisch motivierter Einsatz des Strafrechts

Jurist Singelnstein: Politisch motivierter Einsatz des Strafrechts
27.05.2023
epd
epd-Gespräch: Nils Sandrisser

Frankfurt a.M. (epd). Die Frage, ob die „Letzte Generation“ eine kriminelle Vereinigung ist, ist nach Auskunft des Rechtswissenschaftlers Tobias Singelnstein ungeklärt. „Darüber wird in der Rechtswissenschaft intensiv diskutiert“, sagte der Professor der Frankfurter Goethe-Universität dem Evangelischen Pressedienst (epd). Für eine Einstufung als kriminelle Vereinigung müsse allerdings „ein besonderer Unrechtsgehalt verwirklicht sein“.

Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ übten einerseits legalen Protest aus, sagte Singelnstein. Sie seien Teil einer sozialen Bewegung, die sich am politischen Meinungsbildungsprozess beteilige.

„Andererseits haben Teile dieser Bewegung auch Aktionsformen gewählt, die rechtliche Grenzen überschreiten“, sagte der Jurist. Dazu gehöre Sachbeschädigung oder Nötigung. Ob friedliche Straßenblockaden eine strafbare Nötigung seien, werde ebenfalls in der Rechtswissenschaft diskutiert und müsse immer im Einzelfall geprüft werden.

„Was wir gerade erleben, ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess darüber, wie mit solchen Klimaprotesten umgegangen werden soll“, erklärte Singelnstein. Teile der Politik positionierten sich mit drastischen Worten gegen die „Letzte Generation“. Der zunehmend schärfere Einsatz des Strafrechts und die Kriminalisierung des Protests seien weitere Schritte in diese Richtung. Insofern könne durchaus von einem politisch motivierten Einsatz des Strafrechts gesprochen werden, erklärte Singelnstein.

Das Besondere am Paragrafen 129 des Strafgesetzbuchs über die Bildung krimineller Vereinigungen sei, dass er eine starke Ausweitung und Vorverlagerung der Strafbarkeit vorsehe. Schon die Bildung einer solchen Vereinigung und die Mitgliedschaft darin sei strafbar, nicht nur konkrete schädigende Handlungen wie Sachbeschädigungen oder Nötigungen. Außerdem seien auf Grundlage dieses Paragrafen sehr weitreichende Ermittlungsbefugnisse eröffnet.

Im Ermittlungsverfahren sei nicht festgestellt worden, dass die „Letzte Generation“ eine kriminelle Vereinigung sei. Bislang sei lediglich ein Anfangsverdacht bejaht worden, betonte Singelnstein: „Ein solcher Anfangsverdacht genügt aber, um Ermittlungsmaßnahmen anzuordnen und durchzuführen.“

Am vergangenen Mittwoch hatte die Polizei Wohnungen von Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ durchsucht. Das Vorgehen der Behörden hatte Kritik hervorgerufen. Die Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“, ein Zusammenschluss von fast 200 Vereinen und Stiftungen, äußerte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Ermittlungsbehörden. Die Maßnahmen erinnerten an autoritäre Staaten „mit restriktiven NGO-Gesetzen“, hieß es in einer Pressemitteilung. CDU-Chef Friedrich Merz nannte die Klimaschutzaktivisten hingegen „Straftäter“.