Mainz (epd). Eine unabhängige Studie zu Missbrauchsfällen im katholischen Bistum Mainz wirft dem verstorbenen Bischof Karl Lehmann und seinen Vorgängern schwere Versäumnisse vor. Für den Zeitraum seit 1945 seien mindestens 401 Betroffene sexueller Übergriffe und 181 Beschuldigte ermittelt worden, sagte der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber am Freitag in Mainz bei der Vorstellung seines über 1.000 Seiten umfassenden Abschlussberichts. Die Bistumsleitungen hätten bis in Lehmanns Amtszeit (1983-2016) hinein keinen Blick für das Leid der Opfer gehabt. Der derzeitige Mainzer Bischof Peter Kohlgraf versprach, das Bistum werde sich unter seiner Führung der Verantwortung für die Vergangenheit stellen.
Die Ergebnisse von Weber und seinem Team beruhen auf der 2019 begonnenen Auswertung von rund 25.000 Seiten Archivmaterial, knapp 250 Gesprächen mit Betroffenen und einer Umfrage unter Pfarrgemeinden und Caritas-Einrichtungen. Bei der Arbeit an der Studie habe das Bistum keinerlei Einfluss genommen, versicherte Weber: „Wir konnten tun und lassen, was wir wollten.“
Die erfassten Fälle reichen von sexuellen Grenzverletzungen bis hin zu schweren Straftaten. Bei den Beschuldigten handele es sich zu zwei Dritteln um Kleriker, bei einem Drittel um Laien. Beim Umgang mit mindestens 48 mutmaßlichen Tätern habe die jeweilige Bistumsleitung versagt. Der zahlenmäßig größte Anteil der Missbrauchsfälle sei auf die Amtszeit des Bischofs Hermann Volk (1962-1982) entfallen, sagte der Co-Autor der Studie, Johannes Baumeister. Einen langsamen Wandel beim Umgang mit gemeldeten Übergriffen habe es erst unter dem 2018 verstorbenen Karl Lehmann gegeben.
Allerdings habe auch Lehmann das Thema zu keinem Zeitpunkt als Chefsache betrachtet, kritisierte Weber: „Seinen mit eigenen Worten formulierten Anspruch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche und im Bistum Mainz hat er selbst zu keiner Zeit erfüllt.“ Zwar habe sich der Umgang mit Betroffenen verbesesrt. Doch die vom Bistum beschlossenen Leitlinien seien in der Praxis nicht konsequent angewandt worden. Bei Verdachtsfällen sei es vor allem darum gegangen, öffentliche Kritik zu vermeiden.
Missbrauchsfälle seien aber nicht nur von der Bistumsleitung vertuscht worden. Auch Pfarrgemeinden, Behörden und vielfach sogar die Eltern der Betroffenen hätten eine Aufklärung und Aufarbeitung ausgebremst. Die „Überhöhung des Priesteramtes“, die katholische Sexualmoral und der Umgang mit Geheimnissen und Macht müssten auch auf theologischer Ebene überdacht werden, fordert Weber. All diese Faktoren hätten „ein Umfeld geschaffen, in dem sexueller Missbrauch Raum finden konnte.“
In seinem Zwischenbericht von 2020 hatte der Anwalt die Zahl von Betroffenen und Beschuldigten sogar noch etwas höher eingeschätzt. Nach gründlicher Prüfung stuften die Verfasser der Studie einen kleinen Teil der Fälle jedoch als nicht hinreichend plausibel ein, in einigen stellte sich auch heraus, dass die Beschuldigten in keiner Beziehung zum Bistum Mainz standen.
Bischof Kohlgraf, der den Inhalt des Berichts vorab selbst nicht kannte, sprach in einer ersten Stellungnahme von „erschreckenden Ergebnissen“ der Untersuchung. „Menschen sind zerstört worden, Glauben und Vertrauen“, sagte er. Der Missbrauchsskandal und der Umgang damit stelle ein systematisches Versagen der Kirche dar. „Um der Wahrheit für die Betroffenen willen darf es keine unantastbaren Denkmäler mehr geben“, erklärte Kohlgraf. Das gelte auch für Kardinäle und Bischöfe. Ausführlich will das Bistum in der kommenden Woche Stellung nehmen.
In Berlin forderte der religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Lars Castellucci nach den Erfahrungen verschiedener Bistümer eine deutschlandweite Gesamtstudie zum Missbrauch bis 2025. „Wir dürfen nicht nur die katholische Kirche in den Blick nehmen und müssen Missbrauchstaten auch in anderen Bereichen aufklären, etwa im familiären Umfeld, im Sport oder in Heimen“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd).