Göttingen (epd). Umsturzfantasien wie die der kürzlich festgenommenen mutmaßlichen „Reichsbürger“ stehen nach Ansicht des Göttinger Demokratieforschers Simon Franzmann am Ende eines länger andauernden Radikalisierungsprozesses. „Die eigene Gedankenwelt hat sich häufig so weit von den objektiven Tatsachen entfernt, dass ein Eingestehen dieser Diskrepanz zum psychischen Zusammenbruch führen könnte“, sagte Franzmann dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die betreffenden Menschen würden die objektiven Tatsachen deshalb zunehmend als Bedrohung wahrnehmen. „Der Umsturz ist dann ein - unbewusster - Versuch, die Diskrepanz zwischen objektiven Tatsachen und subjektiver Wahrnehmung zu überwinden.“
Verschwörungsmythen fänden vor allem in Krisenzeiten Zulauf, sagte der Direktor des Instituts für Demokratieforschung der Universität Göttingen. „Verschwörungsmythen geben Sicherheit in einer unsicheren Welt.“ Sie böten eine vermeintliche Kontrolle über Dinge, die als unkontrollierbar wahrgenommen würden. „Zudem führen sie zu einer Art Selbsterhöhung: Man fühlt sich als Teil einer eingeweihten Gruppe, die Dinge versteht und Zusammenhänge erkennt, die andere Leute nicht verstehen und erkennen.“
Die Anfälligkeit für solche Mythen resultiere meist aus einer persönlich wahrgenommen narzisstischen Kränkung. Deren Ursache kann Franzmann zufolge etwa ein Verlust oder eine Niederlage sein. Auch eine unzureichende Aufarbeitung der Rolle der Vorfahren während der NS-Zeit könnten eine Rolle spielen. Hinzu komme die Unfähigkeit, Widersprüche in einer als unübersichtlich wahrgenommenen Welt auszuhalten. „Die Verschwörungserzählung löst diese Widersprüche auf.“
Für Verschwörungsmythen aller Art seien seit Jahren rund 30 Prozent der Bevölkerung grundsätzlich offen, sagte Franzmann. Durch die Corona-Pandemie sei dieser Anteil zwar nicht gestiegen. Allerdings seien viele Menschen in ihren sozialen Kontakten eingeschränkt gewesen. Wer schon vorher nur schlecht integriert gewesen sei und jetzt noch mehr soziale Kontakte verloren habe und zudem für Verschwörungserzählungen anfällig sei, habe sich möglicherweise radikalisiert. „Weil sie schmerzhaft spüren, in der großen Mehrheit der Gesellschaft keine Akzeptanz zu besitzen, kapseln sie sich weiter ab.“
Der Experte rät, in Diskussionen mit Sympathisanten von Verschwörungstheorien ruhig und geduldig zu bleiben. Gesprächspartner sollten auf Übereinstimmungen hinweisen und sachlich erläutern, warum sie bestimmte Dinge anders sähen. Eine sofortige Verhaltens- und Glaubensänderung sollten sie jedoch nicht erwarten. „Aber wenn die Person merkt, dass trotz abweichender Meinung mit ihr wertschätzend geredet wird, hilft das, einem weiteren Radikalisierungsprozess vorzubeugen.“