Berlin (epd). Immer mehr Kinder bekommen einer Studie zufolge von ihren Eltern nicht vorgelesen. In knapp 40 Prozent der Familien mit Kindern zwischen einem und acht Jahren wird aktuell wenig oder gar nicht vorgelesen, wie aus einer am Montag in Berlin veröffentlichten Umfrage der Stiftung Lesen hervorgeht. 2019 lag er Anteil der Eltern, die wenig oder gar nicht vorlesen, demnach noch bei 32 Prozent.
Im gleichen Zeitraum sei der Anteil von Eltern, die ihren Kindern nie vorlesen, von acht Prozent auf 20 Prozent gestiegen, sagte die Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen, Simone Ehmig, bei der Vorstellung des „Vorlesemonitors“. Neben der Verfügbarkeit von Lesestoff im Haushalt hätten auch die Bildungsvoraussetzungen der Eltern Einfluss darauf, wie oft Kindern vorgelesen werde. Mehr als die Hälfte der Eltern mit formal geringer Bildung lesen der Umfrage zufolge selten oder nie vor. Diese Kinder seien damit bereits vor Schuleintritt benachteiligt.
Auch bei Familien mit Migrationshintergrund besteht der Studie zufolge ein Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Eltern und der Häufigkeit des Vorlesens. Wer in der Kindheit vorgelesen bekommen habe, tendiere dagegen unabhängig vom eigenen Bildungsstand dazu, den eigenen Kindern vorzulesen.
Fördermaßnahmen müssten Eltern darin bestärken, Vorlesen, Erzählen und das Betrachten von Bildern von Anfang an in den Alltag zu integrieren, heißt es in der Studie. Sie müssten motiviert und überzeugt werden, auch den Übergang in die ersten Schuljahre hinein mit Vorlesen zu gestalten, bis die Kinder selbst gut lesen könnten.
Viele Eltern fingen mit oder nach dem zweiten Geburtstag der Kinder vergleichsweise erst spät mit dem Vorlesen an. Den meisten Drei- bis Fünfjährigen wird laut Studie zu Hause vorgelesen. Spätestens mit Eintritt in die Schule lasse das Vorlesen der Eltern deutlich nach, merklich stärker als noch 2019. Dies führe wegen des fehlenden gleitenden Übergangs zu Frustrationen bei den Kindern und hemme deren Motivation zu lesen.
„Die Fähigkeit, fließend zu lesen, entscheidet über den gesamten Bildungs- und Arbeitsweg“, sagte Bildungsstaatssekretär Jens Brandenburg (FDP) bei der Vorstellung der Studie. Dabei gehe es nicht nur um das fließende Lesen, sondern auch um das Verständnis von Texten, sagte er mit Blick auf Mathematikaufgaben in der Schule, Busfahrpläne oder Mietverträge. Das Lesenlernen beginne nicht in der Schule, sondern im Elternhaus. „Wer nicht ausreichend lesen kann, wird Probleme haben, einen Beruf zu erlernen oder zu studieren“, mahnte er.
Vorlesen muss den Autoren der Studie zufolge von einer privaten Option zur bildungspolitisch ernst zu nehmenden Maßnahme werden. Für den Vorlesemonitor 2022 wurden den Angaben zufolge zwischen dem 14. Mai und dem 18. Juni 839 Eltern befragt. Die Stiftung Lesen, die Wochenzeitung „Die Zeit“ und die Deutsche Bahn Stiftung geben seit 2009 gemeinsam die Vorlesestudie heraus.