"Beginnen wir mit Fakten. Luftlinien sind messbar, sind Fakten, denen Fake News-Lügen nicht beikommen können.
Kabul ist von Berlin 5000km entfernt.
Aleppo halb so weit.
Kiev noch einmal halb so weit: gut 1.300 km.
Das ist nicht die Welt, dieser Unterschied.
Gemessen am Umfang der schimmernd blauen Kugel, auf der wir Menschen um die Sonne reisen, ist die eine wie die andere Entfernung ein Katzensprung. Hier wie dort und dort leiden und sterben jeden Tag, jede Stunde, Menschen. Die meisten sind – wie immer – unschuldig – soll heißen: am Kampfgeschehen unbeteiligt, unbewaffnet, wehrlos. Es geschieht jeden Tag himmelschreiendes Unrecht. Auch heute noch. Hier wie dort wie dort. Und doch hat es für uns, in unserem Friedens-satten Land einen Riesenunterschied gemacht, dass Krieg, der auf die Vernichtung eines ganzen Staatswesens aus ist, uns plötzlich in zwei Sprüngen so verdammt nah gekommen ist.
Am Morgen des 24. Februars 2022 sind wir in einer anderen Welt aufgewacht. So formulierte Annalena Baerbock, die noch krisenunerfahrene Außenministerin, das, was Kanzler Scholz "Zeitenwende" nannte.
Darauf waren wir nicht vorbereitet. Wir alle nicht. Wir hatten geglaubt / wir durften und wir mussten glauben / dass unsere Existenz garantiert wird von einem System gewordenen Wahnsinn: Bewahrung des Friedens dadurch, dass wir im Ernstfall bereit waren, die ganze Menschheit zu vernichten – wenn wir jemals angegriffen würden. Wir mussten an dieser Idee derart eisern festhalten, dass kein Aggressor jemals daran zweifeln konnte.
Das haben wir getan. Und es hat funktioniert. So lange, dass wir dachten, dass es ewig so bleiben würde. Wir, damit meine ich meine Generation und alle, die hier im Saal jünger sind als ich also praktisch alle. Die Kinder eines goldenen Zeitalters.
In vergangenen Jahrhunderten haben Krieg und Rüstung die Hälfte der öffentlichen Haushalte der meisten Staaten verschlungen. Nach 1945 ist diese Zahl weltweit auf 6% gesunken. Das heißt, es blieb der Menschheit unglaublich viel Geld übrig. Für Infrastruktur, für Bildung, für Soziales, für Forschung. Goldene Zeiten.
Als in schneller Folge der Warschauer Pakt und die Sowjetunion zusammenbrachen, schrieb der Historiker Francis Fukuyama seinen Weltbestseller vom Ende der Geschichte. Das fanden wir nüchternen Europäer typisch amerikanisch übertrieben, haben es aber auch gerne ein bisschen mitgeglaubt, mit vollen Händen Friedensdividenden ausgegeben und die Wehrpflicht ausgesetzt. Das mussten wir tun, weil wir nur noch so wenige Soldaten haben wollten, dass eine Pflicht für alle, von denen dann nur wenige dienen mussten, nicht mehr gerecht sein konnte. Das hatte Folgen.
Als in den ersten Wochen des Ukraine-Krieges, einer der ranghöchsten Soldaten Deutschlands im ZDF gefragt wurde, ob die Bundeswehr in der Lage wäre, einen solchen Angriff abzuwehren, reichten ihm für die Antwort vier Buchstaben und ein Ausrufezeichen: Nein!
Deshalb: Zeitenwende. Deshalb erfand der Bundeskanzler über Nacht ein 100 Milliarden-Euro Sondervermögen. Geld lässt sich, scheint’s, in souveräner Willkür erschaffen. Das Umstellen eines ganzen Staates, eines Volkes, einer Wirtschaft, einer Mentalität auf eine plötzlich wieder gefährliche Welt, ist unendlich viel schwieriger.
Diese gefährliche Welt ist ja nicht plötzlich aufgetaucht. Die war dageblieben, nur nicht so offensichtlich. Die Geschichte hat nicht aufgehört, sie geht unbarmherzig weiter. Dem gilt es nun gerecht zu werden. Das Menschheitsziel einer freiheitlichen, regelbasierten, den Menschenrechten verpflichteten Ordnung darf nicht untergehen.
Für die Auseinandersetzung mit einer gewaltbereiten macht, die auf die Zerstörung dieser Ordnung aus ist, sind wir nicht gut vorbereitet. Übrigens auch Redaktionen nicht. Es gibt selbst in großen und berühmten Redaktionen oft niemanden - der oder die in der Lage wären, militärische Vorgänge zu beurteilen oder auch nur einigermaßen korrekt zu beschreiben. Schlicht ausgedrückt: da hat niemand gedient.
Das erklärt die plötzliche Hochkonjunktur ergrauter Ex-Offiziere auf Fernsehschirmen. Sie sind gesucht und bestimmen die Interpretation der Lage. Und bekommen viel Freilauf. Wenn es um Klimawandel, Sozial-, Wirtschafts- oder Finanzpolitik geht, stoßen Fachleute auf kritischere Interviewer:innen als jetzt bei Fragen von Strategie und Taktik. Ich weiß, wovon ich rede – ich gehöre ja selbst zu den ungedienten Ahnungslosen oder mindestens Ahnungsarmen.
Aber der Waffengang, der Einsatz und Rückzug von Kampfverbänden, ist nicht das einzige, und wahrscheinlich nicht einmal das wichtigste Element der Krisen- und Kriegsberichterstattung.
Es geht ganz entscheidend um die Wirkung des Krieges. Um das Schicksal der Menschen. Um die Suche nach Zeichen für eine Hoffnung auf Ende der Grausamkeit. Getragen nicht von naivem Zweckoptimismus, sondern von Sachverstand und Erfahrung. Und von Menschlichkeit.
Für diesen Teil des Ringens um Fakten und Wahrheit stehen wir, gottlob, nicht wehrlos da. Es gibt Journalistinnen und Journalisten, Reporter und Reporterinnen – hier lohnt sich die Genderei wirklich, weil so viele von den besten unter ihnen Frauen sind – deren Bildern und Kommentaren und Urteilen wir vertrauen können.
Katrin Eigendorf wird heute der Robert Geisendörfer Preis verliehen, weil sie selbst unter diesen besonderen Journalist:innen noch herausragt.
Ein Brennpunkt ihrer Arbeit war Afghanistan. All die Jahre. Und dort ganz besonders das Schicksal der Frauen, für die, mehr als für alle anderen, aus dem Krieg eine Chance erwachsen war. Sie konnten endlich auf ein menschenwürdiges Leben hoffen. Viele von Ihnen haben den Versprechungen des Westens geglaubt, dass er Afghanistan nicht im Stich lassen werde. Sie haben alles auf diese Versprechungen gesetzt. Auch ihr Leben.
Ich erinnere mich daran, wie Katrin gelitten hat unter der eigenen Berichterstattung. Als die größte Allianz der Weltgeschichte abgehauen ist aus Afghanistan. Und Katrin, mit ihrer doppelten Erfahrung als Krisenreporterin und als politische Korrespondentin, hat geahnt, dass das Konsequenzen haben würde auf die Entscheidungen eines Mannes in Moskau, der genau beobachtete, wie der Westen einknickte.
Sie kennt die Ukraine, sie kennt vor allem Russland und Moskau, war dort Berichterstatterin, früher einmal für RTL, dann für das ZDF. Sie hat der Geschichte viele Male ins grausame Gesicht gesehen. Im Tschetschenien-Krieg, in Afghanistan, in Syrien und Libanon. Und nun – nicht erst jetzt, schon lange - in der Ukraine. Sie spricht die Sprache der Menschen in des Wortes doppelter und wahrer Bedeutung.
Es ist gut, sie dort zu wissen - wo ja auch die Wahrheit täglich stirbt – und ihre Berichte zu sehen. Deswegen geht sie immer wieder dorthin, wo doch eigentlich jede und jeder versuchen muss, weg zu kommen.
In "Putins Krieg", ihrem aktuellen Buch, beschreibt Katrin die Erfahrung von Butscha, ihren Blick in die Grube, in der, bizarr verrenkt, Tote liegen. Die Hände auf den Rücken gefesselt, die Gesichter und Körper von Folter entstellt. Sie spricht mit den Zeugen, mit Angehörigen. Sie ist gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten dort, aber niemand hindert sie daran, mit den Menschen zu sprechen, die ihr in der Stadt begegnen.
Als dann Dmitri Peskow, Putins Sprecher, und Außenminister Lawrow davon sprechen, dass Butscha eine Inszenierung der Ukraine gewesen sein könne, kann Katrin Eigendorf mit der Autorität derer, die da gewesen sind, in aller Bestimmtheit sagen, dass sie lügen. Sie muss sich nicht auf die Formel zurückziehen, die wir jetzt so oft hören: Die Behauptungen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Wer soll sie denn überprüfen, wenn nicht eine unabhängige Presse und Ihre Korrespondent:innen.
Es gibt keine bessere Waffe gegen Verschwörungs-Legenden und Fake-News-Propaganda als die Überzeugungskraft einer Reporterin, die die Menschen kennen, von der sie spüren, erfahren haben, dass sie ihr vertrauen können.
Nach meiner Überzeugung ist es genau jetzt entscheidend. Manche Redaktionen entwickeln eine neue, angeblich modernere, vor allem sparsamere Arbeitsweise. Sie beziehen ihr Material mehr und mehr aus fernen Quellen, aus Websites und Social Media, hoffentlich selbstverständlich mit allen Mitteln der Kunst geprüft.
Das ist mit Sicherheit eine wertvolle Erweitung "klassischer" Reporterarbeit. Aber kein Ersatz dafür. Im Gegenteil. Es muss ein neue Hoch-Zeit anbrechen für Reporterinnen und Reporter wie Katrin Eigendorf, die den Fakten, den Stimmungen, den betroffenen Menschen in größter Nähe und manchmal in einer Umarmung begegnen. Das ist der erste Schritt.
Dann, und das ist eine weitere, unendlich wertvolle Qualität der heutigen Preisträgerin, darf die Arbeit nicht bei der Schilderung des Elends stehenbleiben. Gebraucht werden Reporter:innen, die in der Lage sind, in klaren, nachvollziehbaren Sätzen, die Zusammenhänge und Interessen zu schildern. Anteilnahme, Nähe plus souveräne Analyse. Darauf wird es am Ende ankommen. Emotionen zu transportieren ist nicht genug.
Wir brauchen eine Stärkung der Reporterarbeit. Übrigens nicht nur in fernen oder nahen Kriegen, auch in Brennpunkten und Alltagen in Deutschland.
Die Entscheidung der Jury des Robert Geisendörfer Preises ist jedes Jahr eine viel beachtete, wichtige Nachricht. Heute ist sie – das hoffe ich sehr – auch wegweisend. Für unsere Branche. Für die von uns Journalistinnen und Journalisten verantwortete Säule der Demokratie.
Bei Katrin Eigendorf ist sie in besten Händen.
Herzlichen Glückwunsch!"