Saarbrücken, Weimar (epd). Der Historiker und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar, Jens-Christian Wagner, hat „erinnerungskulturelle Defizite“ in Deutschland beklagt. Im Mittelpunkt der Erinnerungsarbeit der insgesamt rund 300 Gedenkstätten stünden meist die Opfer der NS-Gewaltherrschaft, sagte Wagner am Sonntag in Saarbrücken. „Doch zeitgemäße Gedenkstättenarbeit muss sehr viel stärker auch nach den Tätern, Mittätern und Profiteuren fragen und damit nach der Funktionsweise der von den Nazis propagierten Volksgemeinschaft“, forderte er.
Der Historiker verwies in dem Zusammenhang auf eine Langzeituntersuchung der Universität Bielefeld, die erhebliche Gedächtnislücken in der deutschen Erinnerungskultur offenbart. Laut der seit 2017 laufenden MEMO-Studie glaubt die Mehrheit der Bundesbürgerinnen und -bürger, in ihrer Familie habe es keine NS-Täter, wohl aber Opfer gegeben. Viele zeigten sich zudem davon überzeugt, die Deutschen hätten nichts oder nichts Genaues vom Holocaust gewusst.
Die Folgen sind nach Ansicht Wagners das Erstarken rechter Bewegungen und Geschichtsrevisionismus. „Trotz des umfangreichen Ausbaus der Gedenkstättenarbeit in den vergangenen 20 Jahren feiern Rechtsextreme und Rechtspopulisten einen Wahlerfolg nach dem anderen.“ Corona-Leugner und sogenannte Querdenker verharmlosten den Holocaust, indem sie gelbe Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ trügen oder unter dem Hashtag #Weiße Rose zu Demonstrationen aufriefen.
Ziel der Gedenkstätten-Arbeit müsse sein, jedem Versuch entgegengetreten werden, NS-Verbrechen zu relativieren oder gar zu leugnen, mahnte der Weimarer Historiker. Fragen junger Menschen, warum sie sich noch mit der Geschichte der NS-Verbrechen befassen sollten, brauchten wissenschaftlich fundierte Antworten: „Also: Wer hat etwas getan, warum, in welchem Kontext geschahen die Verbrechen und welche Folgen hatte das?“
Wagner sprach bei einer Gedenkveranstaltung am ehemaligen NS-Gestapolager Neue Bremm in Saarbrücken. Das Lager diente im Zweiten Weltkrieg als Durchgangsstation der Häftlinge für Konzentrationslager. Insgesamt rund 20.000 Menschen waren von 1943 bis 1945 dort untergebracht, darunter vor allem Franzosen, Zwangsarbeiter aus Osteuropa, Juden sowie politische Gefangene. Vor 75 Jahren - im Spätherbst 1947 - wurde dort in Anwesenheit überlebender Häftlinge eine Gedenkstätte eingerichtet. 1998 gründete sich die Initiative Neue Bremm, die sich der Erinnerungsarbeit verpflichtet fühlt.