Hannover (epd). Der Neurologe und Psychiater Tillmann Krüger sieht einen großen Nachholbedarf in der Prävention und bei der Behandlung von Jugendlichen, die zu sexualisierter Gewalt neigen. „Das ist ein Riesenproblem, aber keiner geht es an. Keiner hat Expertise“, sagte der Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover dem Evangelischen Pressedienst (epd). Deshalb habe er mit seinem Team an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie das nach eigenen Aussagen bundesweit einzigartige Projekt „HunderachtzigGrad“ initiiert.
Es wende sich an Jugendliche, die an sich sexuelle Gewaltfantasien bemerken, sich zu Kindern hingezogen fühlen oder durch sexuelle Grenzverletzungen auffällig geworden sind, erläuterte der Leiter des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Sexualmedizin. „Die Jugendlichen sollen möglichst selbstmotiviert und möglichst früh zu uns kommen, um Übergriffe zu verhindern.“
Vor allem die Verbreitung kinderpornografischer Schriften über das Internet habe unter jungen Menschen drastisch zugenommen, sagte Krüger. Dazu zählten etwa sexuelle Kommentare, Beleidigungen, Witze, Gesten und Bilder, die in den sozialen Medien wie Facebook, Instagram und Snapchat gepostet und weitergeleitet würden. „40 Prozent der Tatverdächtigen in diesem Bereich waren zuletzt unter 18 Jahren. Seit 2018 hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter den Tatverdächtigen mehr als verzehnfacht.“
Mädchen und Jungen sind in diesem Bereich der nicht körperlichen sexualisierten Gewalt Krüger zufolge gleichermaßen sowohl Täter als auch Opfer. Bei der körperlichen sexualisierten Gewalt sei das anders: Dort erführen die Mädchen die Gewalt überwiegend durch männliche Täter.
In der Psychotherapie sei es wichtig, sehr individuell auf die Bedürfnisse einzugehen, sagte Krüger. Die Klienten sollten „eine Verhaltenskontrolle entwickeln und herausfinden, wie sie ihre Bedürfnisse befriedigen können, ohne dass andere Personen zu Schaden kommen.“
Darüber hinaus müsse ein differenziertes Bild sexualisierter Gewalt noch mehr in die breite Öffentlichkeit getragen werden, forderte der Mediziner. Auch in den Schulen sollte das Thema behandelt werden - am besten durch externe Fachleute: „Wer als Jugendlicher selbst von sexualisierter Gewalt betroffen ist, wendet sich nicht an Lehrer oder Eltern, sondern an die eigene Peer-Group. Wenn Jugendliche dann solche Projekte kennen, haben wir viel erreicht.“