Mainz (epd). Das Weltbild des russischen Präsidenten Wladimir Putin hat sich nach Einschätzung des Mainzer Slavistik-Professors Rainer Goldt in den vergangenen Jahren immer weiter radikalisiert. Die nach dem Zerfall der Sowjetunion wahrgenommene Verbindung zwischen Demokratie und Niedergang eines Staates sei „eine verheerende Verbindung mit dem klassischen russischen imperialen Denken eingegangen“, sagte er in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Besonders beängstigend sei Putins Verehrung für den russischen Philosophen Iwan Iljin (1883-1954), den der Präsident häufig zitiere.
„Iwan Iljin ist im 20. Jahrhundert wohl der radikalste Vordenker des russischen Neoimperialismus gewesen“, sagte Goldt. Zurecht berüchtigt sei beispielsweise sein Aufsatz nach der Machtergreifung Hitlers, in dem er das deutsche Volk dafür gelobt habe, dass es sich auf legitime Weise aus den Fesseln der Demokratie befreit habe.
Iljins Aussagen über die Ukraine seien „von tiefem Chauvinismus“ durchdrungen. Für den weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine lasse dies nichts Gutes hoffen, erklärte der Wissenschaftler, der an der Johannes-Gutenberg-Universität über die russische Literatur- und Geistesgeschichte forscht. Mehrfach habe Putin bei öffentlichen Auftritten und in Aufsätzen auch Iljins Gedanken wiederholt, dass die Ukraine in ihrem Selbstständigkeitsdrang nur von feindlichen Mächten missbraucht werde, um Russland zu schaden. Jede Art der Unabhängigkeit der Ukraine richte sich nach dieser Überzeugung daher direkt gegen Russland.
Die Charakterisierung der Ideen Iljins als „Christlicher Faschismus“ halte er nicht für falsch, sagte Goldt. Dem stehe der Charakter Russlands als Vielvölker-Nation nicht entgegen: „Wir sind es gewohnt, in Europa Faschismus mit der Idee eines ethnisch homogenen Staates zu verbinden. Selbst Iljin als dezidiert orthodoxer Denker hat aber zugleich davon geschrieben, jeder solle auf seine Weise beten.“ Auch Putin betone stets, dass für ihn der Islam als fester Bestandteil zu Russland gehöre.
Für die nähere Zukunft Russlands lasse die von Putin verfochtene demokratiefeindliche Ideologie keine optimistischen Prognosen zu: „Es wird lange dauern, die politischen Diskurse wieder zu entgiften.“ Eine große Hoffnung verbinde er jedoch mit der russischen Jugend, sagte der Wissenschaftler. Sie sei frei von den Erfahrungen der 1990er Jahre und verbinde mit Demokratie wieder einen Aufbruch.