"Wenn man die Sonntagspredigten des russischen-orthodoxen Patriarchen Kyrill liest, sieht man, dass er in den vergangenen Jahren eine sehr aggressive politische Theologie mit imperialen Zügen entwickelt hat", sagte Petra Bahr dem Evangelischen Pressedienst. Kyrill hatte den russischen Angriffskrieg in der Ukraine von Beginn an befürwortet.
In der deutschen Gesellschaft traue man einer Kirche einen solchen geschichtspolitischen Einfluss nicht mehr zu, sagte die hannoversche Regionalbischöfin. Das führe dazu, dass man sich nicht vorstellen könne, dass der Patriarch enormen Einfluss auf das politische Klima in Russland ausübe. Die Aggressivität der Predigten weise darauf hin, dass es kein Stillhalteabkommen zwischen Putin und der russisch-orthodoxen Kirche gebe, sondern eine wechselseitige Bestärkung.
Die politische Theologie des Moskauer Patriarchen zeichne den Traum einer eurasischen, ostslawischen Vereinigung - also einer Vereinigung der Länder Russland, Belarus und Ukraine - auch in kirchenpolitischer Hinsicht. "Kyrill unterstützt nicht nur Putins imperiale Träume, er hat auch eigene religionspolitische Ziele, mit denen er den Krieg rechtfertigt. Außerdem agiert er ähnlich: nach außen aggressiv, nach innen repressiv", sagte Bahr, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Beispielsweise vertrete er das Interesse, die rund 40 Millionen ukrainisch-orthodoxen Christen "zurückzuholen".
"Diabolische Verkehrung" des Evangeliums
Kyrill erzähle den Überfall auf die Ukraine als Befreiung von der Dekadenz des Westens und wolle die orthodoxe Christenheit aus dem Griff der pluralistischen Moderne befreien. "Seine Predigten zeigen eine diabolische Verkehrung des Evangeliums zu einer Art Evangelium des Todes", sagte die Theologin.
"Er verliert über die Kriegsverbrechen und die Menschenrechtsverletzungen schon deshalb kein Wort, weil auch diese für ihn eine Erfindung des Westens sind." Dabei gehe es nicht darum, wie viele Menschen in Russland tatsächlich in den Kirchenbänken säßen. Kyrill liefere eine geistig-kulturelle Legitimation für den Krieg.
Der Blick auf diese gefährliche Verbindung von Religion und Staat lohne sich. "Friedensethische Debatten sind wichtig. Es ist aber auch Aufgabe der Theologie, in der Öffentlichkeit über diese Seite der Religion aufzuklären und sich von ihr abzugrenzen."
Bahr forderte, den kritischen Stimmen innerhalb der orthodoxen Kirche - den ganz wenigen in Russland und den deutlich größeren in der Ukraine, aber auch in anderen Ländern und in einigen Exilgemeinden - mehr Aufmerksamkeit zu geben. Dafür müsse man ein Bewusstsein in den Kirchen hierzulande schaffen. Auch die kleinen Religionsgemeinschaften in der Ukraine, die jüdischen Gemeinden und evangelischen Kirchen, bräuchten dringend Hilfe.