"Ich hatte keine Kenntnis" - dieser Satz ist einer der häufigsten in der mehr als 80 Seiten langen schriftlichen Einlassung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. zu seinem Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising Anfang der 1980er Jahre. Benedikt, damals noch Kardinal Joseph Ratzinger, war von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof.
In dieser Zeit soll er nach Erkenntnissen von Gutachtern, die die Missbrauchsfälle im Erzbistum zwischen 1945 und 2019 untersucht haben, in vier Fällen Priester weiter in den Diensten der katholischen Kirche belassen haben - trotz Kenntnissen über mutmaßliche Missbrauchstaten an Kindern und Jugendlichen, wie das Gutachten, das am 20. Januar vorgestellt wurde, zeigt.
Exemplarisch haben die Gutachter das an einem Fall aufgearbeitet, dem sie sogar eine Sonderuntersuchung gewidmet haben. Ratzinger soll der Versetzung eines Essener Priesters ins Erzbistum zugestimmt haben, dem in seinem Heimatbistum Missbrauchsfälle vorgeworfen wurden. Die Gutachter von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl halten es für "überwiegend wahrscheinlich", dass Ratzinger von der Vorgeschichte des Täters wusste.
Zudem sind sie sicher, dass er als Erzbischof auch an der Sitzung teilnahm, in der die Zustimmung zur Versetzung gegeben wurde. Ratzinger bestreitet dies in der Stellungnahme. Doch Anhand des Sitzungsprotokolls, aus dem Rechtsanwalt Ulrich Wastl zitierte, lässt sich nachweisen, dass Ratzinger aktiv an der Sitzung teilnahm. Fatal ist, dass der Priester auch in den darauffolgenden Jahren Kinder missbrauchte. 1986 wurde er deswegen gerichtlich verurteilt.
"Vertrauenskrise verschärft"
Für den Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller ist klar, dass Benedikt in dem Fall die Unwahrheit sagt. "Er hat die Vorgeschichte des Pfarrers gekannt, er hat mitentschieden, dass er in der Seelsorge ohne Gefahrenauflagen eingesetzt wird, und er war in der entscheidenden Sitzung der Ordinariatskonferenz anwesend, wie die Gutachter nachgewiesen haben. Er dementiert alle drei Sachverhalte. Das ist eine Lüge", sagte Schüller dem Evangelischen Pressedienst.
Die Verfehlungen Benedikts seien heute zwar weder straf- noch kirchenrechtlich sanktionierbar, doch Benedikt beschädige das höchste Amt der katholischen Kirche und damit die Kirche als Ganzes. "Damit hat er die Vertrauenskrise weiter verschärft", sagt Schüller.
Fehlverhalten auch bei Marx
Mit der sogenannten MHG-Studie konnten Wissenschaftler 2018 das Ausmaß des Missbrauchsskandals in Deutschland beziffern, der die Kirche bis heute erschüttert. Hinweise gab es auf 1670 beschuldigte Kleriker und 3677 Kinder und Jugendliche, die Opfer wurden. Doch das ist nur das Hellfeld. Auch in München betonen die Gutachter, dass sie von einer weitaus größeren Dunkelziffer von Taten und Opfern ausgehen. Hinweise auf mindestens 497 Geschädigte finden sich in dem Gutachten.
Dem amtierenden Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx werfen die Gutachter ebenfalls Fehlverhalten in zwei Fällen vor. Marx war bei der Vorstellung des Gutachtens nicht dabei. Er entschuldigte sich am Nachmittag in einem kurzen Statement bei den Opfern.
Institutionelle Ursachen
Marx hatte im vergangenen Juni dem Papst seinen Rücktritt angeboten, um Verantwortung für den Missbrauchsskandal zu übernehmen. Den hatte Papst Franziskus abgelehnt. Der Kardinal hat wiederholt betont, dass die Gespräche mit Missbrauchsbetroffenen in ihm eine Wende bewirkt hätten. Als damaliger Vorsitzender katholischen Deutschen Bischofskonferenz hatte er maßgeblich Anteil daran, dass die MHG-Studie 2018 veröffentlicht wurde. Zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken rief er den Reformprozess Synodaler Weg ins Leben, der die systemischen Ursachen des Missbrauchs beseitigen soll. Der Reformprozess dauert noch bis 2023 an.
Nichts wissen, nicht handeln, Taten nicht verhindern - ein weiteres Gutachten zeigt nun, dass die systemischen Ursachen des Missbrauchs in einer Institution begründet liegen, die vor allem die Täter schützt und sich von den Betroffenen abwendet. "Vertuschung ist Verrat an den Grundlagen christlichen Glaubens", sagte die Rechtsanwältin Marion Westpfahl. Die Kirche müsse Vertuschung als das benennen, was sie sei. Nur dann könne es möglicherweise zu einer Rückeroberung moralischer Autorität für die Institution Kirche kommen.