Ein unabhängiges Gutachten zu Missbrauchsfällen im katholischen Erzbistum München und Freising belastet unter anderen den emeritierten Papst Benedikt XVI. schwer. So soll Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Münchner Erzbischof (1977-1982) in vier Fällen nicht ausreichend gegen Sexualstraftäter vorgegangen sein, geht aus dem am Donnerstag in München vorgestellten Gutachten hervor. Die am Gutachten beteiligten Anwälte sprachen von einer "Bilanz des Schreckens". Der heutige Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx äußerte sich noch am Nachmittag.
Es hätten sich Im Untersuchungszeitraum von 1945-2019 insgesamt Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt gefunden, teilte die Kanzlei "Westpfahl Spilker Wastl" mit. 247 Opfer seien männlich und 182 Opfer weiblich gewesen. Bei 68 Fällen sei eine Zuordnung wegen der Anonymität der Hinweise nicht möglich gewesen. 60 Prozent der betroffenen Jungen waren zwischen 8 und 14 Jahre alt. Damit bestätige sich, dass die Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen seien, hieß es weiter.
Rechtsanwalt Martin Pusch betonte, die Zahlen deckten nur das sogenannte Hellfeld ab. Die Kanzlei gehe von einem größeren Dunkelfeld aus. Gegenstand der Untersuchungen seien mit Blick auf die Täter 261 Personen gewesen, bei 235 hätten sich die Hinweise auf "untersuchungsgegenständliche Verhaltensweisen" ergeben. Von ihnen seien 173 Priester gewesen. Für weltweites Interesse an dem Gutachten sorgte die Rolle des früheren Papstes Benedikt XVI. in diesem Komplex. Ein 370 Seiten umfassender Sonderband in dem mehr als 1.900-seitigen Gutachten beschäftigt sich damit.
Rechtsanwalt Pusch sagte, in zwei der vier Fälle, in denen Ratzinger Fehlverhalten vorzuwerfen sei, gehe es um von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter, die als Priester weiterhin in der Seelsorge tätig sein durften. In einem weiteren Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erzbistums übernommen worden sein, obwohl er im Ausland als Missbrauchstäter verurteilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Ratzinger von der Vorgeschichte des Priesters gewusst habe, sagte Pusch. Benedikt XVI. bestreite den Vorwurf des Fehlverhaltens in allen Fällen.
Rechtsanwalt Ulrich Wastl ging konkret auf den bekanntesten Fall während Ratzingers Amtszeit ein - dem eines Priesters aus dem Bistum Essen, der 1980 trotz des bekannten sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen ins Erzbistum München und Freising wechseln durfte. Papst Benedikt XVI. bestreitet beispielsweise laut einer Stellungnahme für die Gutachter, bei einer Sitzung im Erzbistum zugegen gewesen zu sein, indem es um die Übernahme von H. ging. Diese Aussage des emeritierten Papstes halte er nach den vorliegenden Protokollen für "wenig glaubwürdig", sagte Wastl.
Dem amtierenden Erzbischof Marx bescheinigten die Gutachter eine "grundsätzliche Offenheit" beim Thema sexueller Missbrauch. Aber auch er habe sich darauf beschränkt, die ihm von seiner Verwaltung vorgeschlagenen Maßnahmen durchzusetzen. Die Verantwortung dürfe bei solch einer Thematik aber nicht an Untergeordnete abgeschoben werden, dies sei "Chefsache". Anwältin Marion Westpfahl sagte, beim Gutachten sei es darum gegangen, das "erschreckende Phänomen der Vertuschung" zu beleuchten: "Vertuschung ist Verrat an den Grundlagen christlichen Glaubens."
Kardinal Marx: "Erschüttert und beschämt"
Erzbischof Kardinal Marx zeigte sich angesichts des Ausmaßes von Missbrauchstaten im Erzbistum München und Freising "erschüttert und beschämt". Sein erster Gedanke gelte "den Betroffenen sexuellen Missbrauchs" durch kirchliche Mitarbeitende, sagte Marx am Donnerstagnachmittag in einer ersten Reaktion zu dem mittags vorgestellten unabhängigen Gutachten.
Im Erzbistum München und Freising habe im Untersuchungszeitraum von 1945 bis 2019 sexueller Missbrauch "in einem erschreckenden Ausmaß" stattgefunden, so Marx. Die Begegnungen mit Betroffenen habe bei ihm eine Wende bewirkt, betonte der Erzbischof. Sie hätten seine Wahrnehmung von Kirche verändert und veränderten diese weiterhin. Inhaltlich wollte Marx nicht auf das Gutachten eingehen und verwies stattdessen auf eine für kommende Woche angekündigte Pressekonferenz.
Dass sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche "nicht ernstgenommen" und Täter nicht zur Rechenschaft gezogen worden seien, das wisse man seit Jahren - spätestens seit dem ersten Missbrauchsgutachten des Erzbistums aus dem Jahr 2010, sagte Marx. Als Erzbischof fühle er sich "mitverantwortlich für die Institution Kirche in den letzten Jahrzehnten" und bitte als amtierender Erzbischof im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das erfahrene Leid im Raum der Kirche.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, beklagte nach der Vorstellung des Gutachtens einen empathielosen Umgang mit Missbrauchsopfern in der katholischen Kirche. "Der herzlose, konsequente Institutionenschutz wurde über Jahrzehnte praktiziert. Aus den Fällen wurden bürokratische Vorgänge, Empathie für die Betroffenen fehlte", sagte Rörig: "Mir hat die beschämende Kaltherzigkeit höchster Kleriker im Umgang mit sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen beinahe die Sprache verschlagen."
Die katholische Bewegung "Wir sind Kirche" forderte am Donnerstag von Papst Benedikt XVI. ein persönliches Schuldeingeständnis. Anstatt "immer neue wenig glaubwürdige Dementi" zu geben, solle sich der frühere Erzbischof von München und Freising (1977-1982) seiner " kirchenstrukturellen wie moralischen Verantwortung" stellen, teilte "Wir sind Kirche" mit. Das Missbrauchsgutachten zeigt laut "Wir sind Kirche" erschreckende Einblicke in das mangelnde Verantwortungsbewusstsein klerikaler Amtsinhaber. Der Schutz der Institution habe für sie absoluten Vorrang gehabt.
Kirchenrechtler: Benedikt XVI. beschädigt Kirche
Für den Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller hat der emeritierte Papst Benedikt XIV. mit seinem Verhalten bei der Aufklärung von Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising die katholische Kirche beschädigt. "Er hat die letzte Möglichkeit verpasst vor seinem Tod, wirklich reinen Tisch zu machen", sagte Schüller dem epd nach der Veröffentlichung des Gutachtens über den Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum zwischen 1945 und 2019.
Für Schüller ist klar, dass Benedikt XVI. die Unwahrheit gesagt hat. "Nach der Lektüre der betreffenden Passagen ist Benedikt XVI. der dreifachen Lüge überführt. Er hat die Vorgeschichte des Pfarrers gekannt, er hat mitentschieden, dass er ohne Gefahrenauflagen in der Seelsorge eingesetzt wird, und er war in der entscheidenden Sitzung der Ordinariatskonferenz anwesend, wie die Gutachter nachgewiesen haben. Er dementiert alle drei Sachverhalte. Das ist eine Lüge", sagte Schüller.
Die Verfehlungen Benedikts seien heute weder straf- noch kirchenrechtlich sanktionierbar, sagte Schüller. "Aber er hat das höchste Amt der katholischen Kirche beschädigt und damit die Vertrauenskrise weiter verschärft."
Pater Zollner fordert erneute Reaktion
Der katholische Kinderschutzexperte Hans Zollner fordert eine erneute Reaktion des emeritierten Papstes Benedikt XVI. auf das Gutachten. Die gegen den früheren Münchner Erzbischof erhobenen Vorwürfe beträfen "einen wichtigen Aspekt seines bischöflichen Verhaltens", sagte der Leiter des Instituts fu?r Anthropologie der Päpstlichen Universität Gregoriana. Dazu müsse Benedikt XVI., mit bürgerlichem Namen Joseph Ratzinger, sich "noch einmal verhalten", forderte der Jesuitenpater.
Im Zusammenhang mit den aus dem Gutachten resultierenden Vorwürfen müsse klar sein, dass "es nicht nur um die kirchenrechtlichen oder strafrechtlichen Aspekte geht, denn aufgrund der Verjährung ist da nichts mehr zu machen", so Zollner. Es müsse um die moralische Verantwortung der Kirche gehen. Die Kanzlei, die das Gutachten erstellt hat, habe einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass nicht nur die rechtliche Seite, sondern auch die "systematische Seite der Institution Kirche" beleuchtet werde.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) teilte mit, das neue Gutachten zeige abermals, dass Verantwortliche in der katholischen Kirche "ihre Verantwortung nicht wahrgenommen" hätten. "Wann folgen endlich Konsequenzen, die der dramatischen Lage gerecht werden?", fragte die ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp. Das Münchner Gutachten zeige, "dass auf die Betroffenen bis 2010 keinerlei Rücksicht genommen wurde". Das ZdK fordert eine unabhängige Aufarbeitung. "Ich glaube nicht mehr daran, dass die Kirche allein die Aufarbeitung schafft", sagte Stetter-Karp dem RBB-Inforadio. Sie könne sich einen Ausschuss im Parlament, eine Wahrheitskommission, vorstellen.
Das Münchener Gutachten müsse "Konsequenzen für den Alltag" haben, sagte der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck. Im Hinblick auf die Prävention von sexualisierter Gewalt sei in der katholischen Kirche in den vergangenen Jahren bereits viel geschehen. Er verwies unter anderem auf die Einrichtung von Betroffenenbeiräten in vielen Bistümern. "Gleichzeitig ist wichtig: Wir müssen in allem transparent sein", betonte Overbeck. Das Bistum Essen kündigte für den Herbst die Präsentation einer weiteren Studie an.