Göttingen (epd). Der Göttinger Sozialwissenschaftler Berthold Vogel hat scharfe Kritik an den wöchentlichen „Spaziergängen“ von Gegnern der Corona-Maßnahmen geübt und ihnen „organisierte Anti-Solidarität“ vorgeworfen. „Gemeinsinn ist diesen Demonstranten fremd“, sagte der Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es gehe ihnen nicht um den Gesundheitsschutz, sondern um die Bloßstellung des Staates bis hin zu gezielten Attacken auf öffentliche Einrichtungen wie Impfzentren, Gesundheitsämter, Rathäuser und Ministerien.
Die sogenannten Spaziergänge seien von einer Mischung aus Arroganz und Aggressivität geprägt. „Die Polizei sollte hier die Regeln durchsetzen, die gültig sind“, forderte der Soziologie-Professor. Zwar handele es sich bei den Protestierenden um eine Minderheit, der es nicht gelingen werde, die Gesellschaft zu spalten. Sie machten aber öffentliche Institutionen verächtlich und vergifteten so das gesellschaftliche Klima.
Als Folge fürchtet der Soziologe langfristige Schäden für die ganze Gesellschaft. „Die Saat des Unfriedens, der Demokratie-Verdrossenheit, des Hasses auf Institutionen und auf die Verantwortungsträger in Politik, Verbänden, Medien und Wissenschaft wird ausgestreut.“ Und es sei zu befürchten, dass sie aufgehe, wenn die Politik nicht klarer handele: „Das wochenlange Gezerre um 2G- oder 3G- Regeln, das nicht enden wollende Lavieren bei der Impfpflicht, die verwirrende Kommunikation, die zum Beispiel die Ständige Impfkommission aussendet: All das befeuert das Geschäft derer, die auf Zwietracht aus sind.“
Ferner betonte Vogel: „Long-Covid ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Frage ersten Ranges.“ Soziales Long-Covid drohe, wenn sozialer Zusammenhalt als wichtige Grundlage der Demokratie brüchig werde. „Nicht nur medizinisch wird es kein Ende der Pandemie auf Knopfdruck geben, auch gesellschaftlich drohen Langzeitfolgen, die sich jetzt aufbauen.“
Zwar seien vermutlich die wenigsten „Spaziergänger“ Rechtsextreme, „Reichsbürger“ oder Neonazis, sagte Vogel. Doch die rechtsextreme Szene habe in vielen Fällen die Organisation übernommen und gebe den Rhythmus vor. Besorgniserregend sei, dass die übrigen Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft kämen. „Offensichtlich haben all diese Leute keine Bedenken, mit Extremisten und Demokratieverächtern gemeinsame Spaziergänge zu machen. Wer das tut, dem unterstelle ich Sympathie“, sagte der Soziologe.