Potsdam (epd). Im Prozess um die Tötung von vier Schwerstbehinderten im Potsdamer Oberlinhaus hat am Donnerstag eine Zeugin von Personalmangel und „Vetternwirtschaft“ in der diakonischen Einrichtung berichtet. „Ich habe gekündigt, weil ich das mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte“, sagte die ehemalige Pflegerin Franziska S. vorm Landgericht Potsdam aus. Kolleginnen sei verboten worden, mit ihr befreundet zu sein, da sie Missstände ebenso wie die Angeklagte Ines R. benannt habe.
Anstatt der nötigen drei habe es in der Zeit vor der Tat häufig nur zwei Pfleger pro Schicht gegeben. Einige Bewohner der Einrichtung hätten daraufhin tagelang, mitunter auch wochenlang im Bett liegen bleiben müssen, da keine Zeit gewesen sei, sie in den Rollstuhl zu setzen. Medizinische Probleme bei Patienten seien von den Verantwortlichen ebenso ignoriert worden wie Überlastungsanzeigen der Mitarbeiter, berichtete die 37-Jährige.
Die 52-jährige Ines R. muss sich wegen Mordes und weiterer Straftaten verantworten. Sie soll Ende April mit einem Messer in der diakonischen Einrichtung in Potsdam vier schwerstbehinderte Menschen getötet und eine weitere Frau schwer verletzt haben. Die Staatsanwaltschaft geht von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aus. (AZ: 21 Ks 6/21)
Die zuständige Hausleitung berichtete vor Gericht von guten Leistungen der Angeklagten. Diese habe ihre Arbeit stets gut gemacht, sagte die Leiterin der Einrichtung. Ines R. habe „einen tollen Draht zu den Bewohnern gehabt“. Pflege habe ihr gelegen. Deshalb habe sie ihr eine Ausbildung zur professionellen Pflegerin nahegelegt.
Die Angeklagte lehnte das Angebot demnach unter Hinweis auf ihr fortgeschrittenes Alter ab. Ines R. habe sich nicht „getraut“, obwohl sie dazu durchaus in der Lage gewesen wäre. Auch ein Angebot, wegen einer körperlichen Beeinträchtigung in der gleichen Abteilung als Wirtschaftskraft zu arbeiten, habe sie aus finanziellen Gründen abgelehnt.
Über psychische Erkrankungen der Angeklagten sei nichts bekannt gewesen, sagte die Leiterin des Hauses, in dem es zu der Gewalttat kam. Angesichts der guten Leistungen, und der kreativen Rolle der mutmaßlichen Täterin im Pflege-Team sei sie „schockiert“ gewesen.
Als sie in der Tatnacht in die betroffene Abteilung gekommen sei, sei man zunächst von einem Amokläufer ausgegangen, sagte die Leiterin. Die Benachrichtigung der Angehörigen der vier Opfer seien die schwersten Gespräche ihres Lebens gewesen.
Die Aussagen beider Zeuginnen wurden wiederholt von Gefühlsausbrüchen begleitet. Franziska S. erklärte, sie sei mit der Angeklagten gut befreundet gewesen. Die Pflegerin bedauerte, den Kontakt vor der Tat aufgrund einer psychischen Krise abgebrochen zu haben, in der sie selbst keine Energie für private Kontakte gehabt habe.
Die Gewalttat im Potsdamer Oberlinhaus sorgte vor rund sechs Monaten deutschlandweit für Entsetzen. Zum Auftakt des Prozesses berichtete die angeklagte langjährige Mitarbeiterin über ihre psychischen Beeinträchtigungen und angeblichen Personalmangel in der evangelischen Einrichtung.