Osnabrück (epd). Der Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht in der Aufnahme von Verhandlungen die einzige Möglichkeit, die Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze zu lösen. Er befürchte ansonsten ein Aufschaukeln wechselseitiger Sanktionen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, sagte Oltmer am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Das würde die ohnehin schon bestehende humanitäre Katastrophe für die Flüchtlinge, die bei Minusgraden an der Grenze festsitzen, noch weiter verschärfen.“
Auch den Einsatz von Waffengewalt halte er dann für eine realistische Bedrohung, sagte der Historiker vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). „Zudem zeigt jeder weitere Tag der Welt, dass die Europäische Union kein Konzept hat, was den Umgang mit Flüchtlingen betrifft.“ Die Weltöffentlichkeit werde Zeuge, wie Menschen das Recht verwehrt werde, einen Asylantrag zu stellen. „Das kann nicht im Interesse der EU sein.“ Neue Sanktionen spielten nur der belarussischen Regierung in die Hände. Die habe bereits deutlich gemacht, dass sie sich davon nicht beeindrucken lasse.
Oltmer forderte von den EU-Politikern mehr Ehrlichkeit. Sie sollten die Verantwortung für das Dilemma nicht auf andere abwälzen, wie etwa die Fluggesellschaften oder die Geflüchteten. Die EU verfüge in der Flüchtlingspolitik auch aufgrund der Uneinigkeit im Inneren über keinerlei Lösungskompetenz. Sie sollte die Situation zum Anlass nehmen, endlich mit mehr Ernsthaftigkeit und politischer Energie eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik zu entwerfen. „Wir werden das ansonsten immer wieder erleben, dass die EU erpressbar ist.“
Er halte das Argument, die EU wolle nicht mit einem Diktator verhandeln, für nicht stichhaltig, sagte Oltmer. Europa habe gerade in der Flüchtlingspolitik immer wieder mit nichtdemokratischen Staaten wie Libyen, der Türkei oder Marokko zum Teil sogar Verträge ausgehandelt, betonte er. Ziel der Verhandlungen müsste zunächst eine Erlaubnis für die schon bereitstehenden Hilfsorganisationen sein, die Flüchtlinge zu versorgen, forderte der Migrationsforscher. Des weiteren müsse es natürlich auch um eine Verteilung der Menschen gehen.