Die evangelische Theologin Petra Bahr, die auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, hat die jüngste Empfehlung des Gremiums für eine begrenzte Impfpflicht mit der Abwägung von Freiheit und Verantwortung begründet. Hintergrund der Vorsicht vor einer Impfpflicht in Deutschland sei ein Freiheitsverständnis, das allein vom Individuum ausgehe "und so tut, als wären Gemeinschaftspflichten nachrangig", sagte Bahr dem Evangelischen Pressedienst. "Individuelle Freiheit kann aber nie so weit gehen, dass Schwächere, die keine Ausweichräume haben, dadurch potenziell stark geschädigt werden", ergänzte die hannoversche Regionalbischöfin.
Der Ethikrat hatte sich am 11. November dafür ausgesprochen, eine berufsbezogene Impfpflicht zu prüfen für Bereiche, in denen besonders vulnerable Menschen versorgt werden. Bahr erklärte, es gehe zum Beispiel um Pflege- und Behinderteneinrichtungen, Kindergärten und Grundschulen, solange Kinder sich nicht impfen lassen können. Deswegen gehe es nicht pauschal um bestimmte Berufsgruppen. Es müssten je nach Einrichtung auch Reinigungskräfte, Küchenhilfen und Ergotherapheutinnen im Blick sein.
"Wer sich impft, schützt sich nicht nur selbst, sondern übernimmt auch Verantwortung für den Verlauf der Pandemie, die Situation in den Krankenhäusern und die gesamte Gesellschaft", sagte Bahr. Impfen sei daher eine moralische Verpflichtung. Eine rechtliche Pflicht sei etwas anderes, dies müsse deshalb gut geprüft werden.
In vielen europäischen Ländern sei die Impfpflicht für Berufe mit Kontakt zu besonders gefährdeten Gruppen längst eingeführt. "Die Sorge vor Kündigungswellen in einem Bereich mit großem Fachkräftemangel hat sich nicht bestätigt", sagte sie.
Bahr forderte darüber hinaus angesichts der verschärften Pandemielage eine verbesserte Impfstrategie. "Die Impfkampagne hat schlicht nicht alle erreicht", sagte sie. "Sie war nicht schnell, präsent und aufsuchend genug." In Frankreich beispielsweise begegne man Impfaufrufen und -angeboten ständig. "Bei uns gibt es zwar auch hier und da Appelle. Sich dann aber eine Impfung zu organisieren, ist ein schwieriges Unterfangen, wie man gerade bei der Booster-Impfung wieder sieht", sagte Bahr. Das müsse sich ändern.