"An vielen Orten ist nach dem Lockdown eine Stärkung des Gottesdienstes zu erkennen und zugleich ein Aufbruch von innen", so der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. "Haupt- wie Ehrenamtliche haben in der Corona-Krise noch einmal neu wahrgenommen, was die Menschen sich erhoffen. Dazu zählt eine Kirche, die nah dran ist an den Sorgen der Menschen, die in Notlagen ein offenes Ohr hat und neben handfester Unterstützung auch Kraftorte für die Seele bietet. Diese Orientierung an den Bedürfnissen darf uns auch nach der Krise nicht mehr verloren gehen", so Bedford-Strohm. "Es gibt für uns keinen Weg zurück in die Vor-Corona-Zeit", unterstreicht auch Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, die zu den Auftraggebern einer der Studien zählt.
In der am 27. September veröffentlichten midi-Vergleichsstudie "Gottesdienstliches Leben während der Pandemie" gaben mehr als zwei Drittel der Gemeinden an, auch nach dem ersten Lockdown digitale Gottesdienste angeboten zu haben und das, obgleich eine überdeutliche Mehrheit Gottesdienste auch wieder analog gefeiert hat.
In der Pandemie wurde der Studie zufolge vieles kreativ erprobt. Gut 85 Prozent der Gemeinden hoffen, dass diese Kreativität und Innovationsfreude auch nach der Pandemie erhalten bleiben. Darüber hinaus ist es durch die digitalen Möglichkeiten gelungen, Kontakte zu Menschen über die Zielgruppenarbeit aufrechtzuerhalten.
Innovationsfreudige Gemeinden
"Was wir beobachten können, ist, dass Kirche während der Pandemie digitaler geworden ist und der Gottesdienst mehrheitlich auch in digitalisierter Form zugänglich gemacht wird", so Daniel Hörsch, Leiter der Studie. Immerhin ein Fünftel bis ein Viertel der Gemeinden sind während des Oster-Lockdowns tatsächlich den Weg einer digitalen Kirche gegangen, mit ausschließlich digital angebotenen Gottesdiensten, digitalen Abendmahlsfeiern und Angeboten, die an den Logiken des Digitalen ausgerichtet waren.
Das neue Normal im gottesdienstlichen Leben scheint dabei die analoge und digital-asynchrone Verkündigung zu sein. Über die Hälfte der Gemeinden feiern Gottesdienste analog und stellen den aufgezeichneten Gottesdienst digital in erster Linie über Youtube zur Verfügung. Der Präsenz-Gottesdienst profitiert dabei von den guten Erfahrungen aus dem Digitalen. Kürzer, innovativer und partizipativer stellen sich Gottesdienste zwischenzeitlich auf. "Wir müssen alles tun, damit uns die Kreativität und Innovationsfreude, die sich unter Corona-Bedingungen entwickelt haben, erhalten bleiben. Das ist mein Appell an alle, die Verantwortung in der Kirche tragen: Sorgen wir gemeinsam dafür, dass kreative Freiräume reichlich vorhanden sind und genutzt werden!", so Bedford-Strohm.
Online-Gottesdienste als wichtiger Bestandteil
Die Midi-Vergleichsstudie hat 729 Gemeinden in Kurhessen-Waldeck, Mitteldeutschland, Württemberg und der Nordkirche erneut befragt, die im vergangenen Jahr im Kontext der Ad-hoc-Studie "Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise" angegeben hatten, dass sie durch Corona digitale Verkündigungsformate angeboten haben. Davon haben sich 35 Prozent an der midi-Vergleichsstudie 2021 beteiligt.
Gestützt werden die Ergebnisse durch die zeitgleich veröffentlichte "Studie zu Online-Gottesdiensten 2021. Update der Befragungsstudie "Rezipiententypologie evangelischer Online-Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise" (ReTeOG 2), an der sich knapp 4500 Befragte beteiligt haben. Die Studie, die von fünf evangelischen Landeskirchen in Auftrag gegeben worden war, unterstreicht, dass sich Online-Gottesdienste in den letzten anderthalb Jahren während der Corona-Pandemie in vielen Gemeinden zu einem wichtigen Bestandteil entwickelt haben und das auch auf Dauer so bleiben soll.
Mehrheit wünscht sich Fortsetzung
Mehr als 55 Prozent der Befragten gaben an, dass sie auch noch in Monaten, in denen es wieder Angebote in den Kirchen vor Ort gab, regelmäßig an Online-Gottesdiensten teilgenommen hätten. Zwar war der Wert vor einem Jahr direkt nach dem allerersten Lockdown mit über 65 Prozent noch etwas höher, doch ist dies immer noch eine deutliche Mehrheit. Ganze 79 Prozent wünschen sich aktuell sogar explizit, Online-Gottesdienste auch nach der Corona-Zeit fortzuführen - und zwar am liebsten durch die eigene Kirchengemeinde vor Ort (65 Prozent).
"Die Studie hat gezeigt: Auch nach der Pandemie wollen Gemeindeglieder weiter die Möglichkeit haben, digital Gottesdienst zu feiern. Wir haben als Kirchen und Gemeinden in den letzten anderthalb Jahren mutig neue Wege beschritten. Es gibt für uns keinen Weg zurück in die Vor-Corona-Zeit", so Thorsten Latzel, Präses der mitbeauftragenden Evangelischen Kirche im Rheinland. "Mich freut besonders, dass sich die Gottesdienstteilnehmenden stärker beteiligen wollen. Die digitalen Fürbitten sind dafür ein Beispiel, aber auch ganz neue geistliche Gemeinschaftsformen im Netz. Die Ortsgemeinde bleibt dafür ein wichtiger Bezugspunkt. Die meisten Befragten wünschen sich einen digitalen Gottesdienst aus ihrer Gemeinde."
Viele Indikatoren der Studie, die von den Landeskirchen in Baden, Hannover, Hessen-Nassau, Württemberg und dem Rheinland beauftragt worden war, sprechen dafür, dass sich Online-Gottesdienste zumindest bei den Kirchgängerinnen und Kirchgängern fest neben analogen Formaten etabliert haben: Atmosphärisch werden sie noch positiver bewertet als letztes Jahr – beispielsweise ist die Zuordnung "freundlich" von 68 auf 73 Prozent gestiegen. Der Anteil derjenigen, die sich umfassende interaktive Elemente wünschen, hat sich von neun auf 20 Prozent verdoppelt. Entsprechend hat sich auch der Wert derjenigen, die Videokonferenzen als Austauschformat präferieren, von 25 auf knapp 55 Prozent erhöht.
"Die Entwicklung der Online-Gottesdienste ist eigentlich ein Musterbeispiel für nachhaltige lokale Digitalisierung", sagt der Kommunikationswissenschaftler Holger Sievert von der Hochschule Macromedia in Köln, der die wissenschaftliche Leitung der Studie hatte. "Zwar ist es den Kirchen nur wenig gelungen, sich neue Dialoggruppen zu erschließen. Doch haben die bestehenden quer durch alle Altersschichten diese neue Form der Teilhabe an Kirche für sich als zusätzliche Option entdeckt und möchten sie weiterleben. Jetzt ist es wichtig, hier mit entsprechenden Angeboten am Ball zu bleiben".
Der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm erhofft sich von den Studien auch einen Impuls für lebendige Debatten über die künftige kirchliche Arbeit. Die Studien hätten sehr schnell Fragen wissenschaftlich aufgegriffen, die evangelische Kirche auf vielen Ebenen bewegen. "Mit den Analysen stehen zugleich spannende Fragen im Raum, wie wir in Zukunft Kirche, Gemeinde und Gemeinschaft "auf evangelisch" beschreiben wollen. Hier wünsche ich mir engagierte Diskussionen, mit Mut zur weiten Perspektive."