Frankfurt a.M. (epd). Schlechte Aussichten in der Corona-Pandemie: Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hält es für möglich, dass binnen rund zwei Monaten die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf 100.000 und die Sieben-Tage-Inzidenz auf einen Wert von 850 steigt. Seine Ankündigung, dass in der vierten Welle der Pandemie negativ auf das Virus Getestete möglicherweise weniger Freiheiten bekommen als Geimpfte, stieß beim Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet (CDU), und beim Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, auf Kritik. Grünen-Chef Habeck indes kann Brauns Argumentation etwas abgewinnen.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schrieb am Sonntag bei Twitter, wahrscheinlich müssten wegen der Pandemie kurz vor der Bundestagswahl am 26. September Einschränkungen beschlossen werden. Er nannte 100.000 Ansteckungen pro Tag eine Katastrophe. Auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen werde wieder steigen.
Am Sonntagmorgen meldete das Robert Koch-Institut (RKI) für die zurückliegenden 24 Stunden 1.387 neue Corona-Infektionen. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 13,8 gegenüber 13,6 tags zuvor. Außerdem starben vier weitere Menschen im Zusammenhang mit dem Virus. Damit erhöht sich die Zahl der gemeldeten Todesfälle laut RKI auf 91.524. Ein Tiefstand bei der Sieben-Tage-Inzidenz war in Deutschland am 6. Juli mit 4,9 erreicht worden. Seitdem steigt die Zahl der Neuansteckungen bezogen auf 100.000 Einwohner pro Woche wieder an.
Kanzleramtsminister Braun erläuterte in der „Bild am Sonntag“: „Wenn sich Delta weiter so schnell verbreiten würde und wir keine enorm hohe Impfquote oder Verhaltensänderung dagegensetzen würden, hätten wir in nur neun Wochen eine Inzidenz von 850. Das entspräche 100.000 Neuinfektionen jeden Tag!“ Doch solange die Impfstoffe gegen die Delta-Variante gut helfen, sei ein klassischer Lockdown nicht mehr nötig, denn die Geimpften und Genesenen spielten für das Infektionsgeschehen keine wesentliche Rolle mehr. Bei einer hohen vierten Pandemie-Welle würden allerdings die Krankenstände historische Höchststände erreichen. „Alle ungeimpften Kontaktpersonen der vielen Infizierten müssten zunächst in Quarantäne. Die Auswirkungen auf die Arbeitsprozesse in den Betrieben wären massiv“, sagte er.
„Bei hohem Infektionsgeschehen trotz Testkonzepten würden Ungeimpfte ihre Kontakte reduzieren müssen. Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbesuche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist“, erläuterte der CDU-Politiker. Denn der Staat habe die Pflicht, „die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen“. „Dazu gehört ein Gesundheitswesen, das im Winter nicht erneut Krebs- und Gelenkoperationen zurückstellen muss, um Corona-Patienten zu behandeln“, sagte er.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet indes sagte am Sonntag im „Sommerinterview“ des ZDF: „Ich halte nichts von einer Impfpflicht und halte auch nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen, dass sie sich impfen lassen sollen.“ Freiheitsrechte müssten für alle gelten, wenn man keine Impfpflicht will. SPD-Fraktionschef Mützenich sagte am Sonntag dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“, für eine ungleiche Behandlung von Geimpften und Getesteten bestünden hohe verfassungsrechtliche Hürden.
Grünen-Chef Habeck indes sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag), zwar müsse sich niemand impfen lassen. Aber man könne nicht damit rechnen, dass alle anderen auf ihre Freiheit verzichten, weil man sich nicht hat impfen lassen. Die Konsequenz sei, dass Geimpfte und Genesene künftig „unter Umständen mehr Möglichkeiten und Zugänge haben können, als Menschen, die sich gegen eine Impfung entschieden haben“.
Derzeit sind nach Angaben des RKI etwas mehr als 60 Prozent der deutschen Bevölkerung mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft worden. 49,1 Prozent hatten bis Freitag den vollständigen Schutz, für den bei den meisten Vakzinen eine zweite Impfung notwendig ist. Die sogenannte Herdenimmunität setzt nach Schätzung des RKI eine Impfquote von mehr als 80 Prozent voraus.