Wiesbaden, Berlin (epd). Im vergangenen Jahr haben die Jugendämter in Deutschland so viele Kindeswohlgefährdungen festgestellt wie noch nie seit Einführung einer entsprechenden Statistik 2012. Das Statistische Bundesamt meldete am Mittwoch in Wiesbaden fast 60.600 Fälle, rund neun Prozent mehr als 2019. Neben einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für den Kinderschutz könnten im Corona-Jahr 2020 auch die Belastungen von Familien infolge der Kontaktbeschränkungen ein Grund für die Zunahme gewesen sein, hieß es.
Familien- und Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) sieht in dem deutlichen Anstieg von Kinderwohlgefährdungen einen „weiteren wichtigen Grund dafür, künftig Schulen und Kitas geöffnet zu halten“, wie sie am Mittwoch in Berlin sagte. Die Statistikbehörde schließt nicht aus, dass ein Teil der Fälle etwa wegen vorübergehender Schulschließungen unentdeckt geblieben ist. Bundesweit prüften die Jugendämter im Jahr 2020 knapp 194.500 Verdachtsmeldungen, das waren zwölf Prozent mehr als 2019.
Schulen und Kitas haben laut Lambrecht eine wichtige Schutzfunktion für Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien häuslicher Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch ausgesetzt sind. Die Ministerin wies darauf hin, dass unmittelbar nach Beginn der pandemiebedingten Einschränkungen die Online-Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche ausgebaut und erweitert worden seien, damit diese sich Hilfe holen konnten.
Bereits in den beiden Jahren vor der Corona-Pandemie war laut Statistischem Bundesamt die Zahl der festgestellten Kindeswohlgefährdungen um jeweils zehn Prozent gestiegen. 2020 war etwa jedes zweite betroffene Kind jünger als acht Jahre (51 Prozent) und jedes dritte jünger als fünf Jahre (33 Prozent). Etwa die Hälfte (49 Prozent) der betroffenen Jungen und Mädchen hatte zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch genommen.
Die meisten der rund betroffenen 60.600 Kinder wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 Prozent). Bei rund einem Drittel aller Fälle (34 Prozent) wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen beispielsweise in Form von Demütigungen, Einschüchterungen und Isolierung gefunden. In etwas mehr als einem Viertel (26 Prozent) der Fälle gab es Indizien für körperliche Misshandlungen und in fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt.