DIW-Chef: Verlustängste bei Öko-Umbau der Wirtschaft überzogen

DIW-Chef: Verlustängste bei Öko-Umbau der Wirtschaft überzogen
10.07.2021
epd
epd-Gespräch: Stefan Fuhr

Berlin (epd). Der Ökonom Marcel Fratzscher kritisiert gezielte Angstmacherei in der Diskussion um einen klimagerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. „Einigen Politikern ist es gelungen, den Menschen zu suggerieren, Klimaschutz werde ihnen extrem große Opfer abverlangen“, sagte der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Es wird bewusst Angst geschürt.“

Die Sorge ums Klima werde sich deshalb vermutlich nicht entscheidend auf die Bundestagswahl am 26. September auswirken, erklärte Fratzscher. In den Köpfen vieler Wähler habe sich festgesetzt, dass wirtschaftlicher Wohlstand und Klimaschutz zueinander im Widerspruch stehen. „Dabei ist Klimaschutz die Grundlage für künftigen Wohlstand“, betonte der Wirtschaftswissenschaftler.

Gleichwohl räumte Fratzscher ein, dass es auf dem Weg zur gesetzlich beschlossenen Klimaneutralität im Jahr 2045 Verlierer geben werde. „Es werden Arbeitsplätze verschwinden.“ Beim Kohleausstieg vollziehe sich das schon seit 40 Jahren. „Aber wenn wir nicht handeln, werden wir alle verlieren. Klimabedingte Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Trockenperioden lassen das jetzt schon erahnen.“

Um die sozialen Härten abzufedern, müssten die besonders belasteten Menschen entschädigt werden, ihnen müssten Chancen eröffnet werden, ihr Leben neu zu gestalten, sagte der DIW-Chef. „Wir müssen die Verlierer mitnehmen.“ Dazu gelte es, Innovationen und neue Technologien zu fördern, die Arbeitsplätze schaffen. Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sollten eins zu eins an jene zurückfließen, die von der Verteuerung der Energie besonders betroffen sind. „Diese Klimaprämie sollte einkommensbezogen sein, damit die Schwächsten profitieren.“

Der Ökonom unterstrich, dass eine CO2-Abgabe die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen nicht schwäche, wie viele Industrieverbände behaupteten. Sie sei vielmehr eine riesige Chance, sich im globalen Wettbewerb neue technologische Vorteile zu verschaffen, denn sie erhöhe den Innovationsdruck. „Man muss aber auch klar sagen: Viele deutsche Autozulieferer zum Beispiel werden die Entwicklung hin zur Elektromobilität nicht überleben“, ergänzte er. „Aber das kann kein Argument sein, den Klimaschutz zu verzögern.“

Nach Fratzschers Worten schließt soziale Gerechtigkeit das Wohlergehen künftiger Generationen ein. Es sei kein Akt der Großzügigkeit, an die zu denken, die noch geboren werden, sondern Teil des Gesellschaftsvertrages. „Wir haben uns unseren ungeheuren Wohlstand hier in Deutschland ja auch nicht selbst erarbeitet“, sagte der DIW-Chef. „Das waren vorherige Generationen: Sie waren innovativ und erfindungsreich, haben einen starken Sozialstaat und Institutionen aufgebaut.“