Berlin (epd). Die Kritik an der vom Bundeskabinett beschlossenen Pflegereform hält an. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe wertete die Vorlage von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Donnerstag in Berlin als „Wahlkampf“. Präsidentin Christel Bienstein kritisierte, an der Unterbezahlung und der Überlastung der Pflegekräfte werde der Entwurf nichts ändern. Weitere Akteure der Branche äußerten sich ähnlich kritisch.
Spahns Vorlage zufolge, die am Mittwoch vom Kabinett auf den Weg gebracht wurde, sollen von September 2022 an nur noch solche Einrichtungen mit der Pflegekasse abrechnen können, die Tariflöhne oder Löhne mindestens in gleicher Höhe bezahlen. Der CDU-Politiker sagte, das werde „eine Spirale nach oben“ in Gang setzen und insbesondere im Osten Deutschlands die Löhne steigen lassen. Er verwies darauf, dass von den rund 1,2 Millionen Pflegekräften nur etwa die Hälfte nach Tarif entlohnt würden.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di hält die Lohnregelungen hingegen für missbrauchsanfällig und fürchtet Dumping-Tarifverträge. Das müsse verhindert werden, forderte Vorstandsmitglied Sylvia Bühler. Ungewöhnlich deutliche Kritik kam auch vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, der vom Bundesfamilienministerium gefördert wird und Kommunen, Wohlfahrtsverbände und Bundesländer sowie die meisten Akteure im Sozialwesen unter seinem Dach vereinigt. Geschäftsführerin Nora Schmidt kritisierte, es bleibe unklar, ob und wie die Regelungen greifen, und es solle erst 2025 geprüft werden, ob die Löhne tatsächlich gestiegen seien.
Auch das zweite zentrale Vorhaben der Pflegereform, die Entlastung der Pflegebedürftigen in Heimen, überzeugt die Kritiker nicht. Dem Entwurf zufolge sollen Heimbewohner einen Zuschuss zu ihren Zuzahlungen erhalten, damit die Mehrkosten der Reform nicht zu ihren Lasten gehen. Der Zuschuss steigt mit der Dauer des Heimaufenthalts von fünf Prozent im ersten Jahr auf 70 Prozent ab dem vierten Jahr. Im Bundesdurchschnitt müssen Heimbewohner jeden Monat rund 830 Euro zu ihrer Pflege dazuzahlen. Dieser Anteil würde bei längerer Pflege im Heim um einige hundert Euro sinken. Er ist aber nur ein Teil der Zuzahlungen, die sich inzwischen auf durchschnittlich 2.068 Euro im Monat belaufen.
Der Vorsitzende des BIVA-Pflegeschutzbunds, Manfred Stegger, nannte die prozentualen Erleichterungen bei den Eigenanteilen „Schönfärberei“. Ursprünglich habe Spahn eine Deckelung auf 700 Euro in Aussicht gestellt. Nun gebe es im ersten Jahr nur einen Zuschuss von fünf Prozent, kritisierte Stegger. Von der Entlastung in den Folgejahren werde nur die Hälfte der Betroffenen profitieren, weil jeder zweite Heimbewohner im ersten Jahr des Aufenthalts sterbe. Die Kommunalverbände erklärten, die Zuschüsse seien zu gering. Die Kommunen kommen mit der Sozialhilfe für Pflegebedürftige auf, wenn deren Rente nicht reicht, um den Heimplatz zu bezahlen.
Die Finanzierung der Reform steht ebenfalls in der Kritik. Dem Entwurf zufolge soll die Pflegeversicherung von 2022 an einen jährlichen Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro erhalten. Weitere 400 Millionen Euro sollen den Pflegekassen durch eine Erhöhung des Beitrags für Kinderlose von 3,3 auf 3,4 Prozent des Einkommens zufließen. Zweifel an der Finanzierung wies Spahn zurück: „Wir haben eine saubere Gegenfinanzierung ohne Defizite“, erklärte er.
Nach Einschätzung des Spitzenverbandes der Kranken- und Pflegekassen (GKV-Spitzenverband) steuert die Pflegeversicherung durch die steigenden Ausgaben hingegen in diesem Jahr auf ein Zwei-Milliarden-Defizit zu, was Beitragserhöhungen zur Folge haben könnte.