"Für viele Menschen ist auch Gottesdienst ein Lebensmittel", schrieb die 62-Jährige in ihrer regelmäßigen Kolumne für "Bild am Sonntag". "Es geht gerade in diesen Zeiten um Trost, Ermutigung und die Erfahrung: Ich bin nicht allein", argumentierte die ehemalige hannoversche Landesbischöfin.
Wer aus Vorsicht oder Rücksicht zu Hause bleiben möchte, könne digital Gottesdienst feiern. "Aber den anderen zu verbieten, zu den höchsten kirchlichen Feiertagen zusammenzukommen, das geht gar nicht!", erklärte Käßmann. Die Kirchen feierten seit Monaten Gottesdienste mit Abstandsregeln und Hygienevorschriften. Da gebe es nicht mehr Grund zur Besorgnis als im Lebensmittelladen. Auch das Gottesdienstverbot an Ostern im letzten Jahr war aus Käßmanns Sicht ein Fehler. Damals habe man aber noch wenig über die Corona-Ansteckungen gewusst.
Was unterscheidet Kirche von anderen Institutionen?
Nach Auffassung des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack befinden sich die Kirchen in der Corona-Krise auf einer Gratwanderung. Wenn die Kirchen ihre Partikularinteressen zu stark herausstellten, würden viele fragen, ob die kirchliche Sonderrolle gerechtfertigt sei. Eine solche Diskussion wollten die Kirchenleitenden vermeiden, sagte Pollack dem Evangelischen Pressedienst. Auf der anderen Seite gebe es die Kirchennahen, die jede oder fast jede Woche zum Gottesdienst gingen. Angebote für diese Gruppe zu unterbreiten, sähen die Kirchen auch als eine wichtige Aufgabe an. Die Kirche stehe zwischen unterschiedlichen Erwartungshorizonten, sagte Pollack. Da müsse sie eine Balance finden.
"Einerseits ist für Gottesdienste prinzipiell die Präsenz wichtig, das Beisammensein, die Gemeinschaft, die über das Internet doch sehr stark eingeschränkt ist", sagte Pollack. Andererseits sehen die Kirchen aber - wie schon die ganze Zeit der Krise über - die Wichtigkeit von Hygienemaßnahmen und auch von Social Distancing, sagte er.
Bisher hätten die Kirchen die Gratwanderung gut gemeistert, sagte der Religionssoziologe. Sie seien selbstverständlich online gegangen, als das angesagt war, und hätten sich seelsorgerlich und karitativ engagiert. Deutlich werde in der Krise aber eine theologische Argumentationsnot, sagte Pollack. Diese habe tieferliegende Wurzeln. Die Frage, was das unaufgebbare Spezifikum der Kirche im Unterschied zu anderen Institutionen sei, sei bislang nicht beantwortet worden. Seelsorge und die Sorge für die Armen und Schwachen in der Gesellschaft reiche zur Definition der eigenen Rolle nicht aus. Diese Rolle erfüllten etwa auch Medizin, Wohlfahrtsverbände und Wissenschaft.
Die Spitzen der evangelischen und katholischen Kirche hatten sich nach den Bund-Länder-Beschlüssen am Dienstag überrascht über die Bitte geäußert, religiöse Veranstaltungen nur virtuell durchzuführen. Sie verwiesen auf bestehende Hygienekonzepte. Wie schon zu Weihnachten werden an Ostern die Kirchengemeinden entscheiden, ob sie Präsenzgottesdienste feiern oder nicht.